Hamburg. „Gunther lässt immer auf sich warten, der ist ein Spätburgunder.“ Nach einem Nibelungen-Pointenkrepierer wie diesem würde man auf jedem guten Poetry-Slam-Wettbewerb wegen vorsätzlichen Germanistik-Fouls mit einem nassen Handtuch von der Bühne geprügelt werden und das mit Recht. Siegfried, der hehrste aller Helden, war gerade erst von Hagen theaterblutspritzend ermordet, der „Götterdämmerung“-Weltenbrand war eher handzahm abgearbeitet worden.
Für Philipp Hochmair hatte damit ein textilarmes, aber beeindruckendes, mitreißendes und oft höchst amüsantes Kraftpaket-Solo sein Ende gefunden. Er durfte als tumber Tor mit blonder Glamrocker-Mähne und großzügig freischwingendem Gemächt mit seinem Riesenschwert Nothung auf alles einschlagen, was ihm vor die Klinge kam und zwischendurch auch noch staunend entdecken, welche biologischen Unterschiede es zwischen Frauen und Männern gibt. Von hinten (mit einem Jagdmesser statt dem originalgetreueren Speer) zur Strecke brachte ihn Barbara Nüsse, in ihrer gut sitzenden Hosenrolle als eiskalt finsterer Intrigant ein furchterregendes Erlebnis, nachdem Brünnhilde (manchmal etwas überbemüht im hochtourigen Walküren-Wüten: Marina Galic) mit unsauberen Methoden den von allen so sehr begehrten Ring abgenommen bekam. Rafael Stachowiak hatte hier seine schönsten Stellen als Gunther noch vor sich. Er reifte schnell vom unentschieden tuckigen Herzchen mit Krone zum abgebrühten Realpolitiker. Auch Cathérine Seiferts Kriemhild wuchs mit ihren Herausforderungen im Laufe des Abends.
Für Wagnerianer, die an dieser Stelle nach Siegfrieds Tod ihr Ende mit Schrecken gewohnt sind, begann nach der Halbzeitpause die ungewohnte Verlängerung, mit Hebbels Trauerspiel-Fortsetzung, mit Kriemhilds Rache an so ziemlich allem und jedem, 13 Jahre später. Aber was macht der ansonsten sympathisch intelligente, querdenkende Regisseur Antú Romero Nunes an dieser heiklen Naht zwischen den verwandten Epos-Versionen, um die Kurve ins Massaker zu kriegen? Quatsch. Schlimmen, unentschuldbar schlimmen Quatsch. Während Gunther, Hagen und Kriemhild, eben noch die drei von der Gibichungen-Zankstelle, apathisch herumlungern und mit stoischen Mienen auf ihren Einsatz warten, kommt ein Vorbote von Etzel (Thomas Niehaus, später in Personalunion Attila der Hunnenkönig persönlich) ins Bild kantapert, als wären wir bei Monty Pythons „Ritter der Kokosnuss“. Der gibt an der Alleinunterhalter-Schweineorgel eine Mischung aus Hofnarr, Mittelhochdeutsch-Studienrat, Minnesänger und Blödelbarde, mit blutiger Siggi-Handpuppe und „Seid ihr alle da?“-Klimbim wie beim Verkehrskasper. Es wird mühsam bemüht nacherzählt, was gerade erst, vor der Pause, gezeigt worden war, als ob man der eigenen Inszenierung schon nicht mehr über den Weg traut. Dann dröhnt doch noch Wagners todsicher herzzerreißender Trauermarsch im Original, aber der wird mittendrin brachial abgewürgt, bevor einen das perfide gebaute Pathos dieser Musik doch wieder umhaut. Und die Regie-Pausentaste wird endlich wieder entsichert. Und genau da fragt man sich entgeistert: Das alles war jetzt nicht ernst gemeint, oder?
Von diesem Tiefpunkt erholt sich die letztlich sehr zwiespältige Wirkung des gesamten Abends nicht mehr, der als „Siegfried/Götterdämmerung“ den zweiten Teil von Nunes’ Konzentrat des „Rings“ und anderer Mythen angekündigt war. Dabei fing es durchaus gut, vielversprechend und geradezu packend an.
Alberich (André Szymanski) mimte einen Dirigenten, um das „Was bisher geschah“ als gesprochenes Vorspiel ohne Musik zu liefern. Siegfrieds Kampf mit Fafner (Thomas Niehaus) sorgte für einen großartigen Auftritt eines fernöstlichen Drachens im zugenebelten Bühnenhalbdunkel. Hier merkte man auch noch, dass Nunes ein Guter ist, dass er keine alles lähmende Angst hat vor dem Druck und der Höhenangst, die dieses Vorlagen-Massiv bei näherer Betrachtung verursachen kann. Er hatte am Ende aber wohl keine Kraft mehr zur Gegenwehr und keine tragenden Ideen.
Ein sehr schwacher Trost: Schon an Wagners „Ring“ allein sind ganz andere Regie-Kaliber gescheitert; sich auf derart hohem Niveau am Stoff seiner Wahl zu verheben, ist ehrenvoll, aber erst recht schade um die vielen Mühen, die dieser ungleiche Kampf abverlangte.
Je näher das Abschlachten der von Kriemhild so verhassten Verräter kam, desto karger wurden die Regie-Ansätze. Nunes’ „Ring“-Marathonlauf ging auf seinen letzten Metern nicht nur die Puste, sondern auch die ebenbürtigen Bilder aus. Für den Showdown stellte er die Noch-Überlebenden vor den Eisernen Vorhang, als wollte er sich dort vor einer szenischen Lösung für die letzte der vielen Katastrophen drücken, und ließ sie ihren Text chorisch abliefern.
Theaterblut satt übertünchte diese Regie-Notwehr, das Brüllen mit einer Stimme war überdies ein Selbstzitat, das an einen Hilfeschrei grenzte. Mit dieser Methode hatte Nunes bei seiner „Moby Dick“-Inszenierung für das Thalia Theater viel Erfolg gehabt. Hier aber blieb unklar, ob das schon Absicht war oder nur ein Mangel an sinnstiftend genutzter Probenzeit.
Dass im buchstäblich allerletzten Moment noch ein Rückverweis auf den „Rheingold“-Beginn folgte, genügte nicht, um die vielen Niveau-Dellen in diesem „Ring“-Abschnitt ungeschehen zu machen.
Weitere Termine: 18./26.2., 13./14.3, 9.6. Am 31.1. (15 Uhr) läuft „Nibelungen! Der ganze Ring“. Infos: www.thalia-theater.de
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