„St. Vincent“ ist Sozialstudie und Wohlfühlkitsch mit hervorragenden Schauspielern

War ja klar. Eben wurde Bill Murray als mürrischer Vorstadt-Meckerer Vincent für den Golden Globe als bester Hautdarsteller nominiert. Das hatte man schon beim Ansehen des fraglichen Films eigentlich erwartet. Preise gibt es immer gern für Außenseiter und Freaks, Entstellte, Behinderte, Abgedriftete. Und genau das bietet, freilich familienfreundlich abgemildert, „St. Vincent“: Ein berühmter Schauspieler, der noch dazu spielen kann, als Vorstadt-Grantler. Der trinkt, spielt, außerdem pleite ist und die Rücksichtslosigkeit in Person. Eine Art amerikanischer Ebenezer Scrooge, wie in Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte. Ein Menschenfeind, der die arme Bankangestellte anblafft, im Suff mit seinem ebenfalls angejahrten Crysler Lebaron seinen eigenen Vorgartenzaun umfährt und dies der neuen Nachbarin in die Bequemschuhe schiebt.

Doch Vincent, der zudem eine schwangere russische Prostituierte regelmäßig unter die sich nicht mehr sonderlich regende Bettdecke einlädt und – auch das ist gut für jedwede Art von Nominierung – einen Schlaganfall überlebt hat, wird vom Griesgram zum fast gütigen Wohltäter. Wegen eines kleinen Jungen. Den müsste man als unerträglich altklug, streberhaft und nervig bezeichnen, würde er nicht von dem elfjährigen Jaeden Lieberher mit fast stoischem Understatement gespielt.

Ja, „St. Vincent“, die erste Regiearbeit des Produzenten Thedore Melfie, ist ein Feelgood-Movie von der Bonbon-Stange. In dem jeder Handlungszug eigentlich vorauszusehen ist: Alleinerziehende Mom lädt mehr aus Hilflosigkeit denn aus Kalkül ihren Sohn beim bösen Nachbarn ab, der vor sich hin lebt, ungeliebt, einsam, unverstanden. Seine Katze ist sein einziger Freund. Und Daka, die rosablond gefärbte „Lady Of The Night“, die sich freilich bezahlen lässt. Natürlich nimmt auch der geizig-klamme Vincent Geld fürs Babysitten. Und nicht eben wenig.

Dafür bringt er seinem widerwillig ausgehaltenen, am Ende aber ins wenigstens falschgoldene Herz geschlossenen Schützling Kämpfen, Spielen, Pferdewetten, Stripclub-Besuche und Saufen bei. Und der kleine, süß unschuldige, aber schon lebenstaffe Oliver wird auch mitgenommen, wenn Vincent heimlich jede Woche zu seiner dementen Frau ins luxuriöse Pflegeheim fährt und später ihre Wäsche macht. Denn Vincent war natürlich mal gut, ein Held sogar, er hat 200 Soldaten in Vietnam gerettet, aber irgendwann ist ihm das Leben entglitten. Oliver bekommt das alles heraus, als er am Ende des Jahres in seiner katholischen Schule seinen modernen Heiligen küren soll. Und der ist natürlich: St. Vincent.

Am Ende ist alles Hollywood-paletti: Die amerikanische Patchwork-Filmfamilie mit getrennter Mutter, verwitwetem Nachbarn, Kind, dessen Migrantenfreund und käuflicher Nebenfrau samt gerade Geborenem sitzen bei sehr gesundem Essen. Und später macht Vincent in seinem staubigen Garten Karaoke zu Bob Dylans „Shelter From The Storm“.

Erträglich wird dieser sich als Sozialstudie tarnender Wohlfühlkitsch freilich durch die hervorragenden Schauspieler. Melissa McCarthy darf alle ihre Pfunde in ein glaubwürdig müdes, zurückhaltend vorgeführtes Nachtschwesterndasein einbringen, das zudem um das Sorgerecht für den Jungen kämpfen muss. Auch Naomi Watts als russische Billig-Gunstgewerblerin vermeidet trotz Minirock und hart rollendem Akzent alle erwartbaren Nuttenklischees. Und dann ist da noch natürlich Bill Murray als harter irischer Grunzknochen mit weichem Innenfutter. Und auch da bleibt einem nur zu sagen: Es ist famos, wie er mit zwei Augenbrauenzuckern über einem leeren Whiskeyblick mehr sagt als andere in vielen Sätzen. Ein trauriger Clown ist er nicht wirklich in diesem Sentimentalrahmen, in dem Kindern Sardinen als Sushi angedreht werden, aber ein stoischer Lebenskünstler von – durchaus – Samuel-Beckett-Format.

Eigentlich sollte die Rolle mal Jack Nicholson spielen. Doch bei dem wäre St. Vincent wohl ewig ein Teufelchen geblieben. Dafür möge jetzt Murray seinen zweiten Globe kriegen. Und vielleicht sogar einen Oscar als hochprozentige Super-Nanny?

++++- „St. Vincent“ USA 2014, 102 Min., ab 6 J., R: Theodore Melfi, D: Bill Murray, Melissa McCarthy, Jaeden Lieberher, Naomi Watts, täglich im Abaton (OmU), Hansa-Filmstudio, Passage, UCI Mundsburg/Othmarschen; www.st-vincent-film.de