Höchst makabre, unterhaltsame Komödie: „Wild Tales“

Gleich in der ersten Episode, noch vor dem Vorspann, wird der Zuschauer unwiderruflich entsichert. Flugpassagiere müssen feststellen, dass sie sich allesamt auf Einladung eines Mannes in der Maschine befinden, dem sie in der Vergangenheit übel mitgespielt haben. In der zweiten Episode erkennt eine Kellnerin unter ihren Gästen den Kredithai wieder, der ihren Vater in den Selbstmord trieb. In der dritten Geschichte eskaliert ein Überholmanöver; in der vierten setzt sich ein Sprengmeister gegen bürokratische Willkür zur Wehr; in der fünften soll Bestechung helfen, damit der fahrerflüchtige Sohn eines Industriemagnaten ungestraft davonkommt; im letzten Segment gerät eine Hochzeitsfeier aus dem Ruder, als die Braut die Untreue ihres Mannes entdeckt.

Zorn ist die Triebfeder dieser sechs raffiniert konstruierten Miniaturen, deren Endreim zumeist die Vergeltung bildet, die allesamt aber zuverlässig noch eine weitere Wendung nehmen, um den moralischen Gewissheiten endgültig den Boden zu entziehen. Man ist leicht versucht, diese „Wild Tales“, diese wilden Erzählungen hochzurechnen auf eine Bestandsaufnahme des heutigen Argentinien; Episodenfilme erwecken ja gern den Eindruck des Enzyklopädischen, des geschärften Panoramablicks. Gewiss wird nicht jede Alltagsbegegnung dort gleich in Mord und Totschlag enden wie hier im Film. Aber Regisseur Damián Szifrón sammelt ausreichend Indizien, damit der Zuschauer zum Urteil gelangt, die argentinische Gesellschaft sei mächtig aus den Fugen geraten.

Ausgelöst werden diese erzählerischen Kettenreaktionen durch Ungerechtigkeit, soziale Differenz und Korruption. Szifróns Figuren führen auf je eigene Weise beschädigte Leben. Sie ziehen die Welt zur Rechenschaft; ohne Rücksicht auf Verluste. Die Dramaturgie der Verheerungen ist haarsträubend, aber filmisch schlüssig: Nie käme man auf die Idee, die Konflikte hätten einen anderen Verlauf nehmen können. In der zweiten Episode bleibt nur die Frage offen, ob Rattengift nun gefährlicher oder harmloser ist nach dem Verfallsdatum. Und die Polizisten, die die verbrannten Leichen der Streithähne am Ende der dritten Episode in inniger Umarmung vorfinden, liegen nicht ganz falsch, wenn sie von einem Verbrechen aus Leidenschaft ausgehen.

Das Bestiarium, über dem der Vorspann läuft, lässt bereits erahnen, dass sich der Firnis der Zivilisation in den folgenden zwei Stunden als dünn erweisen wird. Die Idee des Menschenmöglichen erweitert „Wild Tales“ um ungekannte Facetten des Makabren. Den Zuschauer versetzt die Kaskade der Geschehnisse in ein Wechselbad der Reaktionen: Komplizenschaft, Schadenfreude und Schrecken lösen einander ab. Unweigerlich fiebert er der Schlusspointe entgegen. Szifróns Vergnügen an der kathartischen Entladung der Gewalt wird getragen von einem gar nicht genügsamen, vielmehr höchst robustem Zynismus. Dass es ein, zweimal den Falschen trifft, verbucht man als bedauerlichen Kollateralschaden.

Die Widerhaken jedenfalls, die Regisseur Szifrón ins Fleisch der gesellschaftlichen Verhältnisse schlägt, weisen ihn als würdigen Erben filmischer Anarchie aus.

++++- „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ Argentinien/Spanien 2014, 122 Min., ab 12 J., R: Damian Szifron, D: Dario Grandinetti, Leonardo Sbaraglia, Ricardo Darin, täglich im Abaton (auch OmU), Holi, Studio-Kino, Zeise; www.wild-tales.de