Die wollen doch nur spielen! Am kostenlosen Trainingsprogramm der Stage Entertainment AG in Hamburg dürfen Kinder teilnehmen, die gut singen und schauspielern. Wer überzeugt, wird als Musicaldarsteller in „Das Wunder von Bern“ auftreten. Zu Besuch in einer Talent- und Träumeschmiede

Aus dem Hintergrund müsste Mark jetzt schießen, Mark schießt, Tor! Die Hauptrolle! Noch in diesem Monat spielt Mark im Musical „Das Wunder von Bern“ mit. 1850 Zuschauer werden ihn bei seinem ersten Auftritt beobachten. 3700 Augen, die Können, Leidenschaft und Emotionen sehen wollen. Die ihm beim Schauspielern und Singen folgen, die sich auf ihn richten und bei einem Fehler nicht wegschauen. Sie werden alles sehen, sie werden ihn sehen. Ihn, den Zwölfjährigen aus Lurup.

Zu viel Druck für ein Kind? „Nö, ich bin nicht aufgeregt“, sagt Mark und zuckt mit den Schultern. Gelassen soll das wirken; obenrum tut er das auch, nur unten zappeln die Füße. Liegt vielleicht am Choreografie-Training, das er gerade absolviert, vielleicht versteckt sich Marks Nervosität aber auch unter seinen Schuhsohlen. Da sieht sie keiner, da kann er sich mit beiden Beinen draufstellen – und drüberstehen.

Lampenfieber scheint eine Erfindung der Erwachsenen zu sein. Beim Kinderdarsteller-Training in Ottensen spielt es an diesem Nachmittag jedenfalls keine Rolle. Sieben Jungs und zwei Mädchen im Alter von neun bis 14 Jahren üben nacheinander eine Musical-Szene. Kinderspiel 1 heißt sie im Drehbuch, da steckt die Anweisung also schon im Namen: Wie ein Kinderspiel soll das wirken, was Mark und seine Mitstreiter aufführen: „Lutz, komm schon, jetzt spiel rüber! Ich bin der Boss, gib her! Weil ich die besten Tricks kenn, braucht Herberger mich sehr!“ „Und ich bin Fritze Walter, ich bin der Kapitän, ich dirigier die Mannschaft, ich kann was, wirst schon sehn!“ „Hej, ich bin der Horst Eckel, der Jüngste in der Elf. Ich hab nicht viel Erfahrung, doch dafür bin ich schnell!“

Gar nicht so leicht, für ein imaginäres Publikum zu singen und gleichzeitig einen Ball an einem höhenverstellbaren Stab so zu führen, dass es wie ein Fußball-Spielzug der WM-Mannschaft von 1954 wirkt. Aber: Da es Kinder sind, die hier agieren, sieht es tatsächlich so aus. Ihr Vorteil: Sie wissen am besten, wie man spielt, sie haben es anders als viele Erwachsene noch nicht verlernt. „Es ist einfach ihr Trieb, den sie ausleben,“ sagt Luciano di Gregorio, künstlerischer Leiter des Unterrichts. „Kinder sind authentischere, ehrlichere Schauspieler.“ Sie bewerten nicht jede Bewegung, sie machen einfach.

So wie Mark, der auf dem Flur beim Gespräch ein anderes Alter zu haben scheint als auf der gedachten Bühne. Draußen, außerhalb der Rolle, ist er ein hibbeliger Zwölfjähriger, der nur wie ein Routinier spricht: „Meine Reaktion auf Musik war schon immer Tanzen. Ich habe schon mit drei Jahren auf einem Bierdeckel gesteppt.“ Drinnen im Trainingsraum beim Spielen seiner Figur ist Mark dann tatsächlich der Profi, der es mit jedem Erwachsenen aufnehmen kann. Jeder Ton, jede Pose sitzt. Er macht das Schwere einfach.

Die spielerische Gelassenheit gelingt deshalb so gut, weil dahinter eine ausgeklügelte Vorbereitung steht. Seit dem Sommer bekommt Mark zweimal die Woche je drei Stunden Unterricht in Schauspiel, Singen und Choreografie, und zwar kostenlos. Bei einem Casting der Stage Entertainment AG wurde er ausgewählt. Das Musical-Unternehmen ist in acht Ländern aktiv und braucht für seine zahlreichen Produktionen vor allem eins: guten Nachwuchs. Das lässt sich die vom Niederländer Joop van den Ende gegründete Firma etwas kosten. Mehr als 15 Millionen Euro hat sie bereits in die Talentförderung gesteckt, denn auch die dreijährige Berufsausbildung an der in Hamburg ansässigen Joop van den Ende Academy bietet sie maximal zehn Schülern pro Jahrgang umsonst an.

Nicht aus Altruismus. Man will sichergehen, keinen erfolgsversprechenden Darsteller an die gebührenfreien staatlichen Schulen zu verlieren, denn die Auswahl ist begrenzt. Deutschland hinkte lange Zeit hinterher in der frühzeitigen Schauspiel-Förderung. In den USA oder Großbritannien erhalten Kinder schon in der Grundschule Unterricht. „In Deutschland fangen die Kinder zu spät an, erst mit 16 oder 17 Jahren“, sagt Luciano di Gregorio. Nicht ohne Grund werden immer noch viele ausländische Darsteller für Shows in Hamburg verpflichtet.

Aber Kinder kann man nicht einfliegen lassen. Sie müssen direkt aus Hamburg kommen. In „Das Wunder von Bern“ sind gleich fünf Rollen zu vergeben, das ist vergleichsweise viel. Jede Rolle muss mehrfach besetzt sein, denn laut Gesetz dürfen Kinder nur einmal die Woche auftreten und auch dann nicht später als 23 Uhr und nicht länger als vier Stunden. Allein die Show „Das Wunder von Bern“ dauert zwei Stunden und 45 Minuten, da bleibt für Schminken, Kostüm und In-die-Rolle-Finden gar nicht mehr so viel Zeit, alles muss zack, zack gehen.

88 Kinder werden derzeit in Ottensen geschult, 25 davon standen bereits auf der Bühne. Wenn es gut läuft, wird jeder eine Rolle bekommen. Der eine eher, der andere später, je nach Lerngeschwindigkeit. Bislang hat nur ein Kind aufgegeben; zwei Jungs kamen in den Stimmbruch und scheiden daher für diese Stücke aus, dürfen aber nach wie vor mittrainieren. Wunderschule wird das Programm intern genannt, weil hier der Nachwuchs für „Das Wunder von Bern“ ausgebildet wird. Offiziell darf es nicht so heißen, irgendwelche rechtlichen Bestimmungen sprechen dagegen, deutsche Behörden haben es nicht so mit Wundern. Dafür haben es die Deutschen mit Musicals, und endlich scheinen sie es auch zuzugeben. Lange Zeit waren Musicals unterbewertet, genau wie zuvor die Operette, die „kleine Oper“. Stets musste sie es sich gefallen lassen, im Gegensatz zur großen Oper als kürzer, komödiantischer, unterhaltsamer und damit in den Augen der hochnäsigen Kultur-Kritik als weniger künstlerisch zu gelten. Die Musicals standen im Schatten der großen Schauspielbühnen. Die weitverbreitete Trennung von E und U, von ernsthafter und unterhaltsamer Kultur, machte ihr Image schwer.

Dabei boomen Musicals im ganzen Land. Jede Kleinstadt-Bühne und jede Theater-AG an Schulen führt inzwischen Musicals auf. Die Liebe zu gesungenen Geschichten ist groß. Auch im Fernsehen. Obwohl mehr als 20 Jahre her, erinnert sich jeder an die ZDF-Weihnachtsserie „Anna“. Hauptdarstellerin Silvia Seidel hing als Poster in allen Mädchenzimmern. Für viele kam kein anderes Lebensziel mehr infrage als Primaballerina zu werden. Ein Berufswunsch in Rosa. Der Seriensong „My Love Is A Tango“ gelangte auf Platz eins in den Charts.

1987 wollten alle Mädchen Anna sein. 2015 wollen alle Jungs Mattes sein. Und Marks Wille wird geschehen. Er wird die Rolle des Matthias Lubanski, genannt Mattes, übernehmen. Ein Junge, dessen Vater nach zwölfjähriger Gefangenschaft aus Russland zurückkehrt und mit dem Leben zu Hause nicht klarkommt. Seine Frau ist plötzlich so selbstständig, seine älteren Kinder vertreten andere politische Ansichten und haben Träume, die der traumatisierte Kriegsrückkehrer nicht nachvollziehen kann, und sein Jüngster begeistert sich nur für Fußball und hat sich einen Ersatzvater gesucht: Helmut Rahn, den Rechtsaußen von Rot-Weiss Essen, genannt „Der Boss“, dem Mattes die Tasche trägt. Der etwas schüchterne Junge verbringt die meiste Zeit auf dem Bolzplatz mit seinen Freunden. Gemeinsam träumen sie von einer Fußballer-Karriere und dem Gewinn der WM.

Mark hat damit die größte Rolle unter den kleinen Darstellern ergattert. In fast allen Szenen wird er auf der Bühne zu sehen sein, insgesamt singt er acht Lieder, darunter den Abschlusssong. Dabei kann er nicht mal Fußball spielen. „Nee, mit meinen Füßen mache ich lieber was anderes“, sagt er. Tanzen lernen wie Michael Jackson beispielsweise. Das würde eventuell die Mädchen in seiner Klasse beeindrucken, die ihn bislang nicht beachten. „Ich bin der Jüngste, die stehen eher auf Ältere.“ Auf Sänger, die vor einem ausverkauften Haus auftreten, stehen sie aber sicher mehr? „Hm, ja, könnte gut sein“, sagt Mark und lächelt.

Wo große Träume fabriziert werden, fällt allerdings auch mal ein Albtraum ab. Ab und zu merkt Mark, dass die anderen Kinder neidisch auf seine Hauptrolle sind, erzählt er. Neid ist die Vorstufe von Missgunst, und spätestens dann schalten sich die Lehrer ein. Es gab einen Fall von Mobbing per WhatsApp, den sie unterbinden mussten. „Wir achten darauf, wie die Kinder miteinander umgehen. Sie sollen in einer angenehmen Atmosphäre lernen“, sagt Melanie Vollmert-Michaelis, die den Schülern in der nächsten Stunde beibringt, wie man Spannung aufbaut und still steht. Auf ein Zeichen hin sollen alle in ihrer Bewegung innehalten, ein 13-Jähriger scheint keine Lust dazu zu haben und beginnt zu mogeln. „Wenn du bescheißt, hast du nichts gelernt, wenn du hier rausgehst“, sagt Vollmert-Michaelis ruhig. Sofort steht der Junge still. Ein Erdbeben könnte ihn nicht mehr vom Fleck bewegen. Das ist die Kunst in der Wunderschule: Disziplin zu vermitteln, ohne die Spielfreude zu töten. In einem Rahmen zu funktionieren und sich gleichzeitig eigenständig zu fühlen. Voraussetzung dafür sind die Freude am Spielen – und die Freiwilligkeit. Die Ausbilder merken sehr schnell, ob jemand aus freien Stücken kommt oder ob er von überehrgeizigen Eltern geschickt wird. „Denjenigen erlösen wir von seiner Qual“, sagt Melanie Vollmert-Michaelis.

Neben ihr schlägt ein Junge namens Michael Rad, auf seinem T-Shirt steht auf Englisch „Vergiss nie deinen Heimathafen“, und auf die Frage, warum er hier sei, sagt er: „Ich will auf die Bühne“, und schlägt wieder ein Rad. Da turnt tatsächlich mit neun Jahren schon das, was man eine Rampensau nennt. Problemlos könnte er ein neuer Heintje werden. „Mit der Präsenz und dem Witz würde er jedes Volksmusikherz erobern“, glaubt auch seine Lehrerin. Doch das wäre das Gegenteil von dem, was hier gelehrt wird. Musicaldarsteller arbeiten im Team, kaum einer wird so bekannt, dass die Leute ihn auf der Straße erkennen. Man bekommt den Applaus, aber keinen Werbevertrag für Zott Sahnejoghurt, kein Foto-Shooting in der „Bunten“. Und wilde Feiern sind bei täglichen Auftritten ebenso wenig drin.

Michael stand bereits ein paarmal auf der Bühne. Nach einer Show kam der Meister Joop van den Ende höchstpersönlich zu ihm und gab dem Neunjährigen einen Tipp: „No Sex, go to sleep!“ Mit der Ausbildung des Nachwuchses kann man nicht früh genug beginnen.