Besuch beim Künstler

Reichstag oder Abu Dhabi: Christo packt sie alle ein

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Andreas Wrede

Foto: Andreas Wrede/ZGBZGH

Seit dem Tod seiner Partnerin Jeanne-Claude arbeitet der Künstler an Riesenprojekten in den USA und Abu Dhabi. Vor 20 Jahren verhüllte er den Berliner Reichstag. Ein Atelier-Besuch in New York.

Die Welt war 1957 insofern in Ordnung, als sie noch in ein einigermaßen klares Schwarz und Weiß getaucht war. Kalter Krieg war zum Alltagsbegriff geworden, der (gute) Westen hatte die Deutungshoheit über den (bösen) Osten, militärisch, ökonomisch, politisch. Da war es besonders erschütternd, dass die Sowjets ihre erste Interkontinentalrakete starteten. Was bedeutete, dass mit dieser Technologie Atomraketen aus der UdSSR abgeschossen werden konnten. Noch heftiger war der Schock, dass „die Russen“ den ersten künstlichen Satelliten – den Sputnik – in eine Erdumlaufbahn katapultierten.

Ein junger Mann, geboren am 13. Juni 1935 im bulgarischen Gabrovo, aufgewachsen in einer Industriellen-Familie, verfolgte die sich verschärfende Weltlage und die repressiver werdenden Regime im Osten Europas. Ohnmächtig schaute die Supermacht USA zu, wie der ungarische Volksaufstand 1956 blutig niedergeschlagen wurde und sowjetische Panzer Menschen niederwalzten. Christo Vladimirov Javacheff studierte seit 1953 an der Akademie der Bildenden Künste in Sofia, zunehmend wurde es ihm in seinem eigenen Lande zu eisig.

„Ich fasste den Entschluss, in den Westen zu fliehen“, erzählt Christo im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt. Fast sagt es dieser asketische, humorvolle, immer zuvorkommende Mann mit der schlohweißen Mähne und der unprätentiösen, schwarz gefassten Brille leichthin, ohne damit zu kokettieren, dass er sich unter Einsatz seines Lebens in einem Waggon versteckte, um 1957 nach Wien zu gelangen. Christo ist ein Künstler mit einem ungeheuren Durchsetzungswillen, der erleben musste, wie sein Heimatland de facto von Moskau regiert wurde. Dieser Hintergrund erklärt das unverwüstliche Prinzip Christos, künstlerische Projekte ausschließlich mit eigenen finanziellen Mitteln zu verwirklichen – um ein weitestgehendes Maß an Unabhängigkeit zu haben. „Das war Jeanne-Claude und mir, das war uns stets das höchste Gut: Autonomie in jeglicher Hinsicht.“ Diese Gemeinsamkeit sollten die beiden sehr rasch feststellen: „Als ich dann 1958 nach Paris ging, der Noveau Réalisme zog mich an, lernte ich zunächst Jeanne-Claudes Mutter kennen.“

Wie das? „Ich wohnte damals in einer Wohnung, die gleichzeitig Studio war, deren Vermieter ein bekannter Coiffeur war. Ich konnte die Miete nur sehr unregelmäßig zahlen. Der gute Mann hatte einen – wie sich herausstellen sollte – wunderbaren Einfall: Ich möge doch die sehr gut situierten Pariser Kundinnen von ihm malen. Und so malte ich Madame Denat de Guillebon, Jeanne-Claudes Mutter, die Gattin eines hochrangigen französischen Generals, der zur Zeit von Jeanne-Claudes Geburt (ebenfalls am 13. Juni 1935) in Casablanca stationiert war.“

Zwar war Jeanne-Claude, als sie den mittellosen und kaum standesgemäßen Künstler kennenlernte, schon vergeben. Zu Lebzeiten verriet sie mir: „Ich war verheiratet mit einem sehr gut gestellten, aber doch eher drögen französischen Kavalier. Kaum erblickte ich jedoch Christo, und umgekehrt, war klar: Wir sind füreinander bestimmt.“ Bis zu ihrem überraschenden Tod im November 2009 in New York City blieb diese (Künstler-)Liebe unzertrennlich. Ich denke, die Tage, an denen die beiden einmal getrennt voneinander waren, lassen sich über die fünf Jahrzehnte auf nur wenige Wochen reduzieren. Und auf den Umstand, dass sie stets getrennt geflogen sind, damit im Falle eines Falles einer von beiden das gemeinsame Werk fortführen könne.

Für Christo ist seine Jeanne- Claude jede Sekunde präsent: „Sie war meine klügste und schärfste Kritikerin, bei all ihrem Temperament – und sie hatte sehr, sehr viel davon – blieb sie bei der Bewertung meiner Bilder oder unserer gemeinsamen Projekte stets schonungslos analytisch“, sagte Christo und nippte an einem Wasser, als wir uns im Haus in der Howard Street, Soho, Downtown Manhattan, trafen, in das er, Jeanne-Claude und der damals noch kleine Sohn Cyril 1964 zunächst illegal einzogen. „Wir hatten nur ein Touristenvisum, kein Geld, und unser Vermieter meinte nur: ,Ihr könnt in einer Etage erst mal umsonst wohnen, aber die heruntergekommene Bude müsst ihr selber renovieren.‘ Das taten wir, nach und nach mit jedem Stockwerk, bis wir es uns leisten konnten, das Haus zu kaufen. Glücklicherweise bekamen wir 1967 eine Greencard, später wurden wir US-Staatsbürger.“

Start mit Projekten in Köln und Paris

In Europa hatten Christo und Jeanne-Claude 1961 im Kölner Hafen ihr erstes Projekt realisiert: „Stacked Oil Barrels and Dockside Packages“, sie verhüllten einige Stapel von Fässern. Mehr Aufmerksamkeit erregten sie 1962 in Paris, als sie in der Rue Visconti vorübergehend den „Wall of Oil Barrels – The Iron Curtain“, in Anspielung auf den Ost-West-Konflikt, installierten. Es war das temporärste aller temporären Werke, nur wenige Stunden erlaubte die Polizei die künstlerische Blockade der Straße. In New York, dem neuen, undergroundigen Zentrum zeitgenössischer Kunst weltweit, schuf Christo frühe, auch verhüllte, Skulpturen, und er baute maßstabsgetreu Ladenfronten nach, sozusagen hyperrealistisch.

Bereits hier hatte Christo die dokumentarisch-skizzenhafte Technik, Zeichnungen zum jeweiligen Status quo mit Fotos collagenartig zu versehen, zu seiner unverkennbaren Kunstform erhoben. Aus diesen teilweise mehrere Meter umfassenden Werken sowie seinen weiteren Arbeiten wie Skulpturen finanzierten und finanzieren Christo und Jeanne-Claude ihre Kunstwerke. Und als etwa Manager einer populären Zigarettenmarke dem Paar einen zweistelligen Millionenbetrag anboten, wenn sie den „Wrapped Reichstag“ (Berlin 1971–95) noch ein wenig länger verhüllt beließen und das Logo der Marke aufhängten, lehnten Christo und Jeanne-Claude sofort ab. Konnten sie hingegen wie in den 90ern im Rahmen eines exklusiven Vortrages in Hamburg im Salon von Alexandra von Rehlingen und Matthias Prinz Werke verkaufen im Vorfeld des „Wrapped Reichstag“, war das bescheidene, symbiotische Paar beseelt.

Mit vollem Risiko haben sie damals einer ziemlich deutschen Bank sämtliche ihrer im persönlichen Besitz befindlichen Kunstwerke als Sicherheit übertragen, um die Finanzierung des seit 1971 geplanten „Wrapped Reichstag“ zu garantieren. Dieses Projekt zum Beispiel hat Christo und Jeanne-Claude rund 25 Millionen Mark gekostet.

Die temporären Werke von Christo und Jeanne-Claude (posthum) werden in der Begründung für den ihnen 2014 verliehenen Theodor-Heuss-Preis als „subtile Provokation am monumentalen Objekt“ kunsthistorisch eingeordnet. Gerade wegen ihrer Flüchtigkeit prägen sie sich ins ewige Gedächtnis. „Bereits 22 Jahre verfolgen wir nun ,Over The River‘, zwischen 1992 und 1994 reisten wir fast 23.000 Kilometer in den Rocky Mountains, wir haben 89 Flüsse inspiziert, um schließlich 1996 einen Abschnitt des Arkansas River in Colorado als Schauplatz auszuwählen.“

Christo richtet sich ganz gerade auf, als er konzentriert fortfährt: „Wir werden auf knapp 68 Kilometern dieses Flusses rund zehn Kilometer mit silbrigen, leuchtenden, durchsichtigen Stoffpaneelen überhängen. Die werden von 60 professionellen Bergsteigern installiert. Besucher werden ,Over The River‘ erleben, wenn sie mit einem Auto oder Motorrad am Fluss entlangfahren, teilweise führt eine Zugstrecke dort entlang. Vor allem wird es herrlich sein, unter den Paneelen mit einem Kajak zu gleiten oder zu raften.“ Noch wartet Christo auf einen Gerichtsentscheid, es gibt Menschen, die Projekte verhindern wollen, obwohl Christo und Jeanne-Claude, seit sie Kunst machen, stets darauf achten, etwa umweltverträgliche, recycelbare Materialien zu verwenden und die Kunst-Orte in ihren ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen.

Aber wir dürfen optimistisch sein, dass „Over The River“ möglicherweise 2016 zwei Wochen lang viele Menschen begeistern wird – 50 Millionen Dollar hat Christo dann in dieses temporäre Kunstwerk investiert. „The Mastaba, Project for Abu Dhabi, UAE“ ist das teuerstes aller Werke, „ich schätze, dass wir um die 370 Millionen Dollar liegen werden“, sagt Christo, „bei der dann größten Skulptur der Welt, an deren Umsetzung Jeanne-Claude und ich seit 1979 wirken.“ Einige Zahlen: Die Mastaba – 160 Kilometer südlich der Stadt Abu Dhabi gelegen, in der Region Al Gharbia– wird 150 Meter hoch sein, an ihrer höchsten Stelle ist sie rund 127 Meter breit und 225 Meter tief. Bestehen wird sie aus 410.000 verschieden farbigen Ölfässern, in ihrer Architektur erinnert sie an eine archaische Pyramide.

Neben den enormen Ausmaßen und der visuellen Kraft beim Anblick ist der Plan ihrer Aufrichtung sensationell: Der Unterbau wie die gesamte Schicht der Ölfässer soll flach im befestigten Wüstensand systematisch angeordnet werden, „um dann Stück für Stück innerhalb von drei, vier Tagen aufgerichtet zu werden“. Bevor wir uns zu unserem Gespräch zusammenfanden, hat Christo – wie immer, wenn er in Manhattan ist – in seinem Atelier im vierten Stock gemalt und gezeichnet, jeden Tag geht er die 90steilen Stufen mindestens fünfmal, sechsmal hinauf und hinunter, die Gänge können sich rasch auf über 500 Stufen pro Tag summieren. „Dreimal die Woche kommt ein Physiotherapeut, wir arbeiten an meiner Fitness, und ich ernähre mich sehr gesund.“

Was diesen Künstler zu Höchstleistungen im Alter treibt, sind unbeugsamer Wille, nie nachlassende Disziplin, ein messerscharf kreativer Verstand und die ungebrochene Liebe zu Jeanne-Claude. „Für sie will ich ,Over The River‘ und die ,Mastaba‘ fertigbringen.“ Wir ahnen: Es wird ihm, diesem zarten Mann, der ein Kunst-Gigant ist, gelingen.