Vor 200 Jahren starb Matthias Claudius. Ein Dichter voller Widersprüche, dessen Verse unsterblich sind. Wer ist dieser Mann, der mit „Der Mond ist aufgegangen“ eines der bekanntesten Abendlieder schuf?

Hamburg. Es sind bei Matthias Claudius neben den schönen und einprägsamen Versen auch andere Dinge, die man sich für den gepflegten, kulturell unterfütterten Small Talk merken kann. Etwa, dass er Lotto spielte. Der Mann verdiente einfach zu schlecht; einer, der „brotlose Kunst“ machte, ein Schöngeist. Es war damals nicht anders als heute: Wer dichtete, komponierte oder spielte, der war arm dran. Prekariat ist keine Erfindung von heute!

Und so war der 1740 im holsteinischen Reinfeld geborene Claudius zeit seines Lebens ein in Gelddingen wenig Bevorteilter. Dafür war er in anderer Hinsicht reich beschenkt, denn seine Frau Rebekka gebar ihm zwölf Kinder. Auch wenn zwei von ihnen früh starben, musste solch eine Kinderschar erst einmal durchgebracht werden. Und so sammelte der Familienmensch und Gedichteschreiber Claudius, der am 21. Januar 1815, also vor 200 Jahren, starb, die Taler bei den Reichen und den Blaublütigen ein – nicht anders als die Geistesheroen seiner Zeit, hießen sie nun Schiller oder Herder. „Pensionen“ nannte man das Sponsoring damals, und das klingt nett, aber ein wenig irreführend. Pensionär konnte so gesehen ja schon ein 30-Jähriger sein. Faszinierende Vorstellung.

Für Claudius, den großen, berühmten und viel gelesenen norddeutschen Lyriker und Journalisten, der unter dem Pseudonym Asmus schrieb, waren freilich ganz andere Dinge faszinierend. Am meisten wohl, wie man mit volkstümlichen, einfachen Versen die große Welt mit ihren vielen Hervorbringungen beschreiben konnte. Das gelang ihm wie beinah niemand anderem. Mit dem „Abendlied“ schuf er eines der bekanntesten Gedichte in deutscher Sprache überhaupt: „Der Mond ist aufgegangen,/Die goldnen Sternlein prangen/Am Himmel hell und klar;/Der Wald steht schwarz und schweiget,/Und aus den Wiesen steiget/Der weiße Nebel wunderbar“ – wer kennt diese erste Strophe des so frommen wie verständlichen Lyrikwerks nicht?

In Wandsbek wahrscheinlich sowieso jeder. Hier hat Claudius mehr als vier Jahrzehnte gelebt, vor den Toren der Stadt, außerhamburgisch sozusagen und sogar: außerhalb der deutschen Landen. Wandsbek war damals dänisch und hieß noch Wandsbeck. Der Claudius-Clan lebte am Lübecker Steindamm. Auf seine letzten Tage war der alte Claudius 1815 noch einmal in Hamburg bei einer seiner Töchter untergebracht. Begraben wurde er aber in Wandsbek; dort, wo es eine Claudius-Gesellschaft gibt, ein Claudius-Denkmal am Wandsbeker Markt und ein Matthias-Claudius-Gymnasium in der Witthöfftstraße. Claudius ist im kulturellen Gedächtnis eng mit Wandsbek verbunden. Er war nämlich, wie wohl besonders in Hamburg viele Oberstufenschüler wissen, von 1770 an der maßgebliche, weil einzige Redakteur des legendären „Wandsbecker Bothen“, in dem das Weltgeschehen behandelt wurde, vor allem aber kleine Feuilletons standen – Rezensionen, Meinungen, Geistreiches. Als Autoren gewann der angesehene Stilist Claudius beinah alle Geistes-Promis seiner Zeit, Goethe und Herder etwa, zudem Klopstock und Lessing, Denker mit Hamburg-Bezug wie Claudius selbst einer war.

Matthias Claudius - „sehr heiter und lebhaft“

Dieser Claudius wurde von seinen Zeitgenossen als „der simpelste Mann, der sich denken läßt“ und als „sehr heiter und lebhaft“ beschrieben, wie ein Dichterkollege mal in einem Brief kundtat. Nun, so simpel war er freilich nicht, eher eine Figur voller Widersprüche, wie Martin Geck Claudius in einer neuen Biografie charakterisiert, die jetzt zum Claudius-Jahr erschienen ist. Sie heißt programmatisch „Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen“ (Siedler-Verlag) – dieser „Unzeitgemäße“ war eine seltene Erscheinung, die Hochkultur und populäre Anmutung verband wie keine andere. Auch in seinen Zeitungstexten – bevor er beim „Bothen“ anfing, schrieb er für die „Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten“ – befleißigte er sich eines leichten und launigen Tons. Egal, über was Claudius schrieb, bildungshuberisch oder gravitätisch war er nie. Er hielt nichts vom hohen Ton der Klassiker, und die lästerten deswegen bisweilen über ihn. Goethe, der statusbewusste Dichterfürst aus Weimar, nannte die Claudius-Texte einmal abfällig „Einfaltsprätentionen“.

Goethe konnte mit Claudius’ Einfachheitsprogramm, innerhalb dessen er mit kindlichem Blick auf die Welt schaute, nichts anfangen. Claudius war ein Demokrat des Wissens und der ästhetischen Urteile. Und, wie sein Biograf Geck ihn beschreibt, ein an den Lebensumständen der einfachen Leute, die zu seiner Zeit außerhalb der Stadt oft Bauern waren, interessierter Zeitgenosse. Eigentlich das Gegenteil eines Schmocks also, der abgehoben in seiner Gelehrtenkammer saß und elitäre Verse schmiedete. Aber eben auch jemand, der sich brave, untertänige Bürger wünschte, der von heute aus betrachtet in seiner Ablehnung der Französischen Revolution borniert und gestrig erscheint. Gegen die nach vorne gerichteten Strömungen der Aufklärung brachte der Mystiker Claudius die Religion in Stellung.

In seinen späten Jahren muss er eine beinahe launenhafte Person gewesen sein – zumindest jemand, der im Gespräch auf Schlüsselreize energisch reagierte. Eine Schriftstellerin, die ihn einst besuchte, teilte danach mit, wie interessant die „muntere Laune, der einfache, doch witzreiche Ton des biederen Claudius“ gewesen sei; neben interessanten „Seiten des Verstandes“ erschien er jedoch auch als einer, der jenen, „der nicht an den Buchstaben der Bibel glaubt, für einen bösen Menschen hält und dessen Umgang meidet“.

Fortschrittsglauben und Vernunftgedanken überließ Claudius anderen. Etwa Klopstock, dem Dichterkollegen. Klopstock neidete den Franzosen ihren großen Ausbruch aus der Ständegesellschaft, ihr Streben nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Revolution fand zu seinem Unglück im Nachbarland und nicht in Deutschland statt. Seine Ode „Sie, und nicht wir“ ist berühmt geworden und heute noch unvergessen– Claudius’ reaktionäre Haltung war da nur eine Randerscheinung.

Sich einen Reim auf Claudius’ Einstellungen, auf seinen Mix an Überzeugungen und Neigungen zu machen, fällt einerseits nicht unbedingt leicht. Er war Freimaurer, obwohl er die Revolution ablehnte. Er sah mit Empathie auf die niederen Schichten, und dennoch nannte man ihn spöttisch einen Aristokraten. Claudius richtete in seinen Versen immer wieder Loyalitätsadressen an die Obrigkeiten und fühlte sich konservativen Kreisen zugehörig, deren Motto „Kein Licht der Vernunft, Erleuchtung von oben“ lautete: immerhin ein knackiger Slogan, oder?

Andererseits ist Claudius, der Aufklärungs- und Fortschrittsskeptiker, eine moderne Gestalt: In einer Welt der Überforderten und Globalisierungsgenervten, in der alles gleich werden soll und manche ein moralisches Obdach vermissen, wäre Claudius heute nur ein weiterer Zweifler. Ob sein berühmtestes Gedicht „Abendlied“ in Wandsbek entstanden ist, wo er so lange lebte, ist übrigens nicht letztgültig geklärt.

Die Claudius-Forschung will nicht völlig ausschließen, dass Claudius die Eindrücke für seine Naturidylle mit Mond in Darmstadt gewann. Dort lebte Claudius mit seiner Familie 1776/77, um als Beamter in einer Kommission zu arbeiten. Das Intermezzo verlief ziemlich katastrophal. Nicht unbedingt in kreativer Hinsicht; zum Beispiel schrieb er das absolutismuskritische Gedicht „Nachricht von meiner Audienz bey’m Kaiser von Japan“ im Hessischen und auch die Verse von „Der Zahn“, mit denen Claudius das Wachsen und Gedeihen seiner Tochter feiert.

Monarchen, Zähne: Claudius hatte keine Berührungsängste. Aber Sehnsucht nach dem Norden und keine Lust auf die Arbeit als gehorsamer Beamter. Schnell kehrte er mit Anhang nach Wandsbeck zurück. Reich wurde er auch dort nie, aber zum Dichter unsterblicher Gedichte.

Martin Geck: Matthias Claudius. Biographie eines Unzeitgemäßen. Siedler-Verlag, 24,99 Euro