Funktionierte westdeutsches Kabarett in der DDR? Ulrich Waller hat bei einer Tournee 1990 Tagebuch geführt. Ein Dokument über verpatzte Lacher, laxe Grenzkontrollen und Auflösungserscheinungen der DDR

Vom 20. bis 26. Mai 1990 machen die Kabarettisten Horst Schroth und Achim Konejung zusammen mit ihrem Regisseur Ulrich Waller und ihrem Agenten Michael Hilleckenbach auf Einladung der Künstleragentur der DDR eine Tournee durch die Deutsche Demokratische Republik. Sie sind mit die ersten West-Kabarettisten im Osten. Ulrich Waller, heute künstlerischer Leiter des St. Pauli Theaters, hat damals Tagebuch geführt. Zum Abschluss unserer Serie zum Mauerfall drucken wir Auszüge.

20. Mai

Wir fahren über den Grenzkontrollpunkt Marienborn. Noch ist die Grenze intakt, noch ist man nervös, wenn man auf sie zufährt. Noch sind die Erinnerungen wach an die vielen Fahrten nach Berlin, wo man oft stundenlang stand vor der Kontrolle und einen die in unsäglichem Sächsisch vorgetragene Aufforderung „Machen Se mal das rechte Ohr frei!“, erwartete. Die Kontrollen sind heute lax, der Ton überraschend freundlich. Die Beamten denken wohl eher drüber nach, was sie nach dem Anschluss der DDR an Westdeutschland machen.

Der erste Auftrittsort ist das Kreiskulturhaus in Merseburg. Der Frühling ist kalt, überall hängt noch die Dunstglocke der Braunkohle wie ein Nebel über der Stadt. Im Kulturhaus, eine Riesenbühne, die erste Stuhlreihe weit weg, die Elektrostecker nicht kompatibel. Die Nervosität ist groß bei uns. Wie wird das Publikum reagieren? Verstehen die hier überhaupt, was wir machen? Wir reden dieselbe Sprache, gut. Aber wir haben eine so anders verlaufene Geschichte. Kabarett lebt von der Reaktion des Publikums, und Pointen brauchen einen gemeinsamen Resonanzraum, gemeinsame Erfahrungen, damit die satirische Zuspitzung überhaupt erkannt werden kann.

Es ist genau 19.45 Uhr. Ein Inspizient kommt und ruft Horst und Achim rein zum Auftritt, ganz wie in einem richtigen Stadttheater, wie hier jedes Kabarett auch einen Heizer und extra einen Dramaturgen hat. Aber dazu später. Und trotz der Mühe passiert es gleich in der ersten Nummer, einer Doppelconference zu der Frage: Was ist eigentlich typisch deutsch? Eine Nummer, die versucht, dem Deutschtum auf die Spur zu kommen und die in einer Beschimpfung des Publikums von Konejung gipfelt: „Also, wenn ich mich so umgucke: Die Deutschen sind unglaublich hässlich.“ Immer ein großer Lacher im Westen, der gekontert wird von Schroth, der Konejung angeht mit dem Satz: „Guck dich doch mal selber an“.

Im Westen beruhigt sich das Publikum gar nicht mehr. Hier in Merseburg friert das Publikum komplett ein. Keine Reaktion. Versteinerte Gesichter. Von diesem Schlag erholt sich der Abend auch nicht mehr. Jetzt sind die hierhergekommen und sagen uns, dass wir hässlich sind.

In der nächsten Nummer kommt Schroth als schwäbischer Öko-Tourist, der erklärt, wo man überall nicht mehr hinfahren kann: „Spanien, die Strände versaut, gepanschtes Oliven-Öl, Italien, die Strände versaut, Jugoslawien, Krieg“. Es gibt für die Figur eigentlich keinen Ort, wo man noch hinfahren kann. Vor Schroth lauter Menschen, die davon träumen, endlich dahin zu kommen. Und das soll jetzt alles nicht gehen, weil es kaputt ist, versaut, versifft? Und wir waren noch nicht da. Das will hier keiner hören. Der Applaus ist freundlich, aber enden wollend. Die Mitglieder einer Amateur-Kabarett-Gruppe haben auf uns gewartet am Bühnenausgang. Sie nehmen uns mit in ihre Wohnung. Es sind vier Chemiestudenten und sie hören nicht mehr auf zu reden. Auch dieser Vorgang wiederholt sich in den sieben folgenden Nächten immer wieder. Es scheint, als sei ein Volk kollektiv von seiner Schweigepflicht befreit worden. Immer neue Geschichte von kleinen und großen Katastrophen, privaten Gängelungen, persönlicher Verfolgung durch das System brechen sich Bahn.

Zwischendurch wird uns immer wieder Schnaps angeboten, nachdem das Bier alle ist. Wir können uns die Geschmacksrichtung aussuchen. Die jungen Männer haben alles da. Wir sind ganz verwirrt, ob der Reichhaltigkeit des Angebots. „Das ist ganz einfach“, wird uns erklärt, als „Männer vom Fach haben wir die Vergällung in dem Methylalkohol neutralisiert und jetzt können wird jeden Geschmack zumischen, haben wir alles hier.“ Wir probieren nur einen kleinen Schluck „Amaretto“ und stellen uns vor, dass wir blind werden.

23. Mai

Auf der Fahrt nach Frankfurt/Oder fällt auf, dass auf vielen öffentlichen Gebäuden, auf Schornsteinen und Fabriken schon die westdeutsche Fahne weht. Die Fahnen haben die Einheimischen gehisst. Sie wollen Flagge zeigen. Und doch wirken die Banner der neuen Ordnung in diesem Moment eher wie Kapitulationsurkunden. Eine Fahrt durch die DDR in dieser Situation, wo sich die alte Ordnung auflöst und die neue noch nicht da ist, nur als Schattenriss zu erkennen, kommt mir vor wie ein Gang durch das Museum unserer eigenen Geschichte, kurz bevor es geschlossen wird. Hier können wir noch einmal eine Zeitreise machen durch die 50er- und 60er-Jahre und in manchen Gegenden direkt in die Nachkriegszeit.

24. Mai

In Frankfurt/Oder sind wir Gast in der Bezirksparteischule „Friedrich Engels“. Hier haben die „Oderhähne“ im „Großen Lektionssaal“ ihren Sitz. „Klimatisierter Raum. Türen immer geschlossen halten“, stehen draußen an der Tür. Das Kabarettsystem im Osten ist völlig anders organisiert als bei uns. Nach einem Parteitagsbeschluss der SED aus den 70er-Jahren sollte jede Bezirkshauptstadt der Republik ein Kabarett haben, egal, ob es jetzt in der Stadt Kabarettisten gibt oder nicht. Und wenn keine da waren, wurden Schauspieler, die man am Theater nicht gebrauchen konnte, dahin geschickt. Hier in Frankfurt/Oder sind das vor allem Berliner Schauspieler, die dort kein Engagement haben, aber unbedingt in Berlin wohnen bleiben wollen und deshalb fast jede Nacht nach der Vorstellung über die von Schlaglöchern übersäte alte Reichsautobahn nach Berlin fahren.

Mit den Texten, die sie sprechen müssen, haben sie auch nicht viel zu tun. Autoren-Kabarett wie bei uns ist hier weitestgehend unbekannt. Es gab ein Autoren-Duo Schaller/Ensikat, das unter Aufsicht der Partei die Kabarett-Programme schrieb, die dann republikweit nachgespielt wurden. Die Namen dieser wie kleine Stadttheater organisierten Bezirkskabaretts waren zum Teil abenteuerlich: „Lachkarten-Stanzer“ hießen sie in Karl-Marx-Stadt, dem früheren und heutigen Chemnitz, „Kugelblitze“ in Magdeburg.

Hier bei den „Oderhähnen“ gibt der Chef nach der Vorstellung im Restaurant der Parteischule einen offiziellen Empfang. Wir haben große Mühe, ein paar Fans, die auf uns gewartet haben, überhaupt da mit reinzubekommen.

Das hauseigene Ensemble darf an dem Abend nicht nach Hause und sitzt um ihren Chef versammelt. Der hält eine Rede, die er sich genau aufgeschrieben hatte und begrüßt im Namen – von wem eigentlich? – „die Delegation aus Westdeutschland“ und bedankt sich höflich für den „interessanten Abend“. Die Rede wird lang und länger und bleibt absolut humorfrei. Von Unterschieden ist die Rede, von Ungewissheiten, was die Zukunft betrifft.

Die Rede ist zu Ende, höflicher Applaus und alle starren uns an. Horst zwinkert mir zu: „Du bist der Delegationsleiter, nun mal los.“ Und in der besten Absicht, meinen Vorgänger leicht parodieren zu wollen, angetreten, merke ich, wie auch mir die Ironie wegbricht beim Reden und ich mich dabei ertappe, wie so langsam das Pathos Einzug hält. Es ist ja wirklich ein historischer Moment. Wir sind die ersten Wessies, die hier auf der Bühne stehen.

Beim Essen stellen wir den Kollegen aus Frankfurt eine Frage, die wir immer wieder stellen: „Was soll bleiben von der DDR?“ Und kriegen eine Antwort, die wir öfter hören: „Ich weiß es nicht, weil ich nicht weiß, was ich verliere.“

Auf den Straßen auffällig viele tote Katzen. Die Tiere sind die neuen schnellen Autos aus dem Westen noch nicht gewohnt. In einem Kino in Leipzig neben den „Accademixern“ läuft der Film „Geldgier – Beim Money hört die Freundschaft auf“.

25. Mai

In einem Inter-Hotel in Potsdam sehen wir, wie auch schon in Halle, Leipzig oder Magdeburg, westdeutsche Manager in schlecht sitzenden Anzügen bei ihren Geschäften. Sie benehmen sich wie Amerikaner im eigenen Land. Manchmal sieht man sie noch geduldig zuhören mit ihren ostdeutschen Partnern. Aber in ihren Augen kann man lesen, dass nichts bleiben wird, wie es war. Und erschöpft vom Kampf mit der zerstörten Infrastruktur – wie kam Kohl nur auf die Idee, das könnten wir aus der Portokasse der BRD bezahlen ? – erholen sie sich nachts mit einheimischen Frauen, oft unschwer zu erkennen an ihrer DDR-Dauerwelle, die sichtlich keine Profis sind auf der Tanzfläche und auf ihrem Zimmer. Das deutsche Fräuleinwunder, hier gibt es das nochmal, aber ganz ohne Sprachprobleme.

26. Mai

Das Ende der Tour ist in der „Distel“ in Berlin. Das Publikum hier hat schon mehr Westkabarett gesehen, das merkt man deutlich. Die Killerpointe aus dem Anfang haben wir inzwischen entschärft mit dem Satz: „Also wenn ich mich hier im Osten so umschaue, die sind auch nicht schöner als wir“. Das funktioniert.

Nach der Vorstellung kommt der Dramaturg der „Distel“ zu uns in die Garderobe, und er ist ziemlich aufgebracht. Eine Figur von Achim hat ihn besonders geärgert. Achim spielt eine Voll-Prolltype im Trainingsanzug, die Hand immer am Gemächte, der dem Publikum von seinen kleinen schmierigen Geschäften erzählt, mit denen er sich das Begrüßungsgeld wieder ganz privat zurückholt nach dem Motto: „Ich schenke denen nichts!“.

Er holt sich für Ost-Bierflaschen, bei denen er die Etiketten abgenibbelt, Westpfand und tauscht das 1:8 in DDR-Mark, kauft sich dafür wieder Ost-Bier und der Kreislauf geht von vorne los, dabei erzählt er krudes nationalistisches Zeug. Er ist ein Vorgänger der Typen, die man kurze Zeit später in Rostock-Lichtenhagen oder in Solingen sieht.

Der Dramaturg ist empört, so eine Figur dürfe doch nicht unbegleitet auf die Bühne. Die müsse man doch anmoderieren, damit das Publikum wisse, wer da kommt. Wir können ihm nicht klarmachen, dass das Publikum doch selbst merken würde, wen es da vor sich hat.

Erschöpft fahren wir in der Nacht beim Checkpoint Charlie wieder über die Grenze in das hellerleuchtete Westberlin und haben wirklich das Gefühl wieder zu Hause zu sein, vollgefüllt mit Geschichten, Gesichtern, Biografien, die unseren oft so gar nicht ähnlich sind und dann wieder doch. In der Kneipe „Diener“ am Savigny-Platz sitzen wir noch die ganze Nacht, müde (wir hatten das Gefühl, diese Tour hätte einen Monat und nicht acht Tage gedauert) aber glücklich und reden darüber, was für ein Zufall es doch war, dass wir im Westen geboren wurden und nicht im Osten.