Der neue Roman des Erfolgsautors Andreas Steinhöfel ist starker Tobak für seine jungen Leser. „Anders“ eben

Es gibt eine Form der Amnesie, die in der Wirklichkeit wesentlich seltener vorkommt als auf der Leinwand oder zwischen Buchdeckeln. Durch ein einschneidendes Ereignis verliert jemand jede Erinnerung an sein vorher gelebtes Leben und muss sich darin nun zurechtfinden wie ein Fremder, was auch die Gewohnheiten und Gewissheiten seiner Umgebung gründlich durcheinanderwirbelt. Klar, dass in derlei Konstellationen ein beachtliches literarisches Potenzial steckt, dramatisch oder komisch oder auch beides zugleich.

Andreas Steinhöfel dreht diese Schraube in seinem neuen Roman „Anders“ ein paar Windungen weiter. Wie schon der Titel verheißt, ist nach dem Unfall von Felix Winter an dessen elften Geburtstag nichts mehr, wie es war. Neun Monate liegt der Junge im Koma, dann kommt er zu sich und erscheint seinen Eltern nicht nur als ein völlig anderer, er nennt sich auch so. Dieser Anders ist seiner Situation nicht ausgeliefert, sondern er gestaltet sie. Auf die Konflikte, die unter dem allfälligen Teppich schwelen, wirken sein neues Charisma und seine unheimliche Fähigkeit, in seine Mitmenschen hineinzusehen, wie ein Brandbeschleuniger.

Steinhöfel hat sich mit der Reihe über den hochbegabten Oscar und seinen Freund, den „tieferbegabten“ Rico, in die Herzen seines jungen Publikums geschrieben. Nun schlägt der Erfolgsautor einen ganz anderen Ton an, erstaunlich herb für ein Buch für Leser ab zwölf Jahren – und erzeugt eine Spannung, die sich im Laufe der Lektüre dank der entschiedenen Komposition in einem einzigen Crescendo steigern wird.

Dieser elfte Geburtstag muss schon schlecht gelaufen sein, bevor ausgerechnet die überbesorgte Mutter Felix mit dem Auto anfuhr und schwer am Kopf verletzte. Der Leser belauscht Felix’ Freunde, die über Felix’ Erwachen leicht besorgt sind – aber was da vorgefallen ist, das lässt der Autor nach bester Thriller-Manier offen.

Felix’ Nachhilfelehrer spielt eine zentrale Rolle im Handlungsgeflecht

Wie ein guter Koch fügt Steinhöfel seine Zutaten zusammen und würzt sie mit ein paar feinen, beziehungsreichen Zitaten. Der Elfenkönig aus Shakespeares „Sommernachtstraum“ spricht von Träumen und Nachtbildern. Von Hans Andersen, dem Schöpfer der „Kleinen Meerjungfrau“, hat Anders seinen Vornamen entlehnt. Und Felix’ früherer Nachhilfelehrer Stack paraphrasiert ein Gedicht von Erich Mühsam, der im KZ ermordet wurde, zu einem anrührenden Klagegesang auf den Tod seiner Frau. Der Junge freundet sich mit dem stillen alten Mann an; mit Anders’ Vater bauen sie zu dritt den Hühnerstall des Alten wieder auf, der vor Jahresfrist in Flammen aufging. Und gerade wenn sich der Leser über die Ausführlichkeit wundert, die der Autor diesem Nebenstrang widmet, stellt sich heraus, welch zentrale Rolle Stack in dem raffinierten Handlungsgeflecht spielt.

Nicht alles in dem Buch ist so ganz von dieser Welt. Vordergründig spielt „Anders“ im Hessen des 21. Jahrhunderts. Aber die Lahn, die den Jungen unheilvoll anzieht, ist von Mythen umwoben und mit Märchenfiguren bevölkert. Da ist es nur konsequent, dass der Autor den Showdown im Fluss dreistimmig inszeniert.

Schön, dass sich der Königskinder Verlag die Mühe gemacht und dafür drei verschiedene Farben und Schrifttypen verwendet hat. Auch sonst hat der Verlag an der Ausstattung nicht gespart. Den oftmals doppelsinnigen Kapitelüberschriften fügt er jeweils eine Vignette von Peter Schössow hinzu. Jedes Detail bezieht sich auf die Handlung, man muss es nur entziffern.

Seinen hintersinnigen Witz bezieht „Anders“, im Gegensatz zu den landläufigen Amnesie-Sagas, gerade nicht aus dem Ichverlust. Wie nebenbei schießt Steinhöfel seine Pfeile ab auf Typen, wie sie unser aller Alltag säumen: den Angeber und Schläger aus Unsicherheit, die Nachbarin, die sich ihre gehässige Neugier als Fürsorglichkeit schönredet, oder den Schulrektor, der sich in sorgsam einstudierten Sentenzen gefällt.

Man könnte es dem Roman ankreiden, dass Steinhöfel die meisten seiner Figuren mit kräftigem Strich zeichnet und ihnen wenig Tiefenschärfe gibt. Felix’ Mutter droht ihr Leben zu versäumen, weil sie alles perfekt unter Kontrolle halten will; nach den Gründen für diese Starre fragt das Buch nicht. Felix’ Klassenlehrerin ist ohne Einschränkung warmherzig und gut, sein Vater zugewandt, vielleicht etwas weich. Erwachsenen mögen diese Charaktere zu erwartbar erscheinen. Seinen jungen Lesern bietet aber gerade diese Klarheit die Orientierung, die sie noch jahrelang brauchen werden, um sich über ihr Verhältnis zur Welt bewusst zu werden – und den Mut zu finden, danach zu handeln.

Andreas Steinhöfel: „Anders“ Königskinder Verlag, 238 S., 16,90 Euro. Ab 12 Jahren