Naturspektakel trifft Familiendrama: „Höhere Gewalt“ zeigt ätzende Gesellschaftskritik in schöner Umgebung

Zunächst scheint es noch, als seien sie eine ganz normale Familie. Tomas (Johannes Kuhnke), Ebba (Lisa Loven Kongsli) und ihre beiden Kinder machen Skiurlaub in den französischen Alpen. Schön ist es dort, majestätisch, aber auch ein bisschen gefährlich. Immer wieder hört man, wie Lawinen losgesprengt werden, um den Gästen sichere Abfahrten zu ermöglichen. Die Familie genießt den Urlaub, alles ist harmonisch, bis zu dem Zeitpunkt, als sie sich auf der Terrasse eines Restaurants mit anderen Urlaubern ausruhen. Wieder erfolgt eine Lawinensprengung. Sie wird zunächst von den Gästen kaum beachtet, aber dann rasen die Schneemassen plötzlich direkt auf die Terrasse zu. Unruhe macht sich unter den Gästen breit, die Lawine kommt immer näher. Als sie die Menschen fast schon erreicht hat, geschieht etwas Unvorhergesehenes. Tomas greift sich seine Handschuhe und sein Handy und haut ab. Seine Familie lässt er zurück. Die Lawine ist kurz vor der Terrasse zum Stillstand gekommen, niemand wurde verletzt. Tomas kommt zurück und setzt sich wieder zu seiner Familie.

Nichts ist danach wie vorher. Zunächst redet das Ehepaar nicht viel über den Vorfall. Als später ein befreundetes Paar zu Besuch kommt, macht Ebba ihrem Mann heftige Vorwürfe. Er habe sich egoistisch verhalten und sie im Stich gelassen. Tomas sieht ganz alt aus, ihm fallen kaum Argumente zur Verteidigung ein. Die kommenden Tage werden quälend. Die Kinder wenden sich von ihren ständig streitenden Eltern ab. Ebba will lieber allein Skifahren und auch nur noch ihre eigene Kreditkarte benutzen. Ein Freund rät Tomas, es mit einer Schrei-Therapie zu versuchen, das habe ihm auch geholfen. Es bleibt ein dilettantischer Versuch.

Ruben Östlund inszeniert sein Ehedrama „Höhere Gewalt“ vor wunderschöner Naturkulisse als klassisches Fünf-Akt-Drama. Der Weite der Bergwelt stellt er klaustrophobische Enge, lange Flure und Gänge entgegen, die die Ausweglosigkeit symbolisieren, in die das Paar geraten ist. Frauen und Kinder zuerst? Der Mann als Beschützer der Familie? Von wegen! Tomas hat – in Panik oder kalkuliert – das Motto „Rette sich, wer kann“ vorgezogen. Der schwedische Regisseur, der mit Skifilmen bekannt geworden ist, bringt diese Erfahrungen ein und verbindet sie überzeugend und fesselnd mit Gesellschaftskritik. Das Faszinierende daran: Jeder kann sich selbst fragen, wie er wohl in Tomas’ Situation reagiert hätte.

Aber können wir uns dessen auch sicher sein? Es geht um ganz universelle Fragen, um den Umgang mit Verantwortung, Scham und Stolz. Ab und zu blitzt ein wenig Humor auf, der aber das grundsätzliche Thema nur kurz aufhellt. „Höhere Gewalt“ gewann in Cannes den Jury-Preis der Reihe Un certain regard und ist Schwedens Beitrag für den Auslands-Oscar.

++++- „Höhere Gewalt“ Schweden/Dänemark/Norwegen 2014, 118 Min., ab 12 J., R: Ruben Östlund, D: Johannes Bah Kuhnke, Lisa Loven Kongsli, Clara und Vincent Wettergren, täglich im Abaton, Koralle, Zeise; www.hoeheregewalt-derfilm.de