Etwa drei Millionen Menschen werden in diesem Jahr die Ausgrabungen von Pompeji besuchen. Seit dort 2010 Gebäude einstürzten, ist die antike Stadt akut bedroht. Mit einem Großprojekt, für das Italien und die EU insgesamt 105 Millionen Euro zahlen, soll das Weltkulturerbe in letzter Minute gerettet werden

Der schleichende Verfall der antiken Stadt Pompeji fiel jahrzehntelang kaum auf. Da die Zerstörungen fast unmerklich voranschritten, machten sie keine Schlagzeilen. Für die örtliche Antikenverwaltung schien daher kaum Handlungsbedarf zu bestehen. Im November 2010 ereignete sich dann eine archäologische Katastrophe: Obwohl man es hätte voraussehen müssen, kam es in Pompeji zum ersten Kollaps eines herausragenden Baudenkmals, der selbstverständlich weltweit beachtet wurde. Vor ziemlich genau vier Jahren stürzte die Schola Armatorum mit lautem Getöse in sich zusammen. Dieses Militärkollegium, in dem sich zu antiker Zeit auch ein Waffenlager befunden hat, ist eines der bekanntesten Gebäude der Stadt, die im Jahr 79 n. Chr. beim Ausbruch des Vesuvs unter einer Ascheschicht begraben und erst Mitte des 18. Jahrhunderts wiederentdeckt und anschließend ausgegraben wurde. Spätestens seit November 2010 ist bekannt, dass Italiens größte Ausgrabungsstätte akut vom Verfall bedroht ist. Weltweit berichteten die Medien über den Zerfall der berühmten Stadt. Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitiano sprach von einer „nationalen Schande“ und der Premier, der damals Silvio Berlusconi hieß und erst kurz zuvor den Kulturetat auf 1,1 Prozent des Haushalts zusammengekürzt hatte, kündigte ein millionenschweres Rettungsprogramm an – ohne sich weiter darum zu kümmern.

Inzwischen kam es zu weiteren Einstürzen, und bald mussten sich die Touristen auf dem 44 Hektar großen Grabungsgelände an unzugängliche Bereiche, notdürftig abgestützte Mauern und abgesperrte Straßen gewöhnen. Erst unter Berlusconis Nachfolger Mario Monti begann sich etwas zu ändern. Im Jahr 2012 wurde das „Grande Progetto Pompeji“ aus der Taufe gehoben, um die antike Stadt vor ihrem zweiten Untergang zu bewahren. Mit insgesamt 105 Millionen Euro soll das archäologisch und kulturgeschichtlich so bedeutende Areal gesichert und restauriert werden. 63 Millionen Euro stellt die Regierung aus Rom zur Verfügung, 42 Millionen die Europäische Union. Das ist viel Geld, aber mit Geld allein, das weiß auch die neue Regierung unter Premier Matteo Renzi in Rom, ist Pompeji nicht zu retten. Es kommt vor allem darauf an, dass die Summe wirklich effektiv eingesetzt wird und nicht in der von der Camorra in weiten Teilen kontrollierten Wirtschaft um Neapel versickert.

So hat Kulturminister Dario Franceschini inzwischen auch personell die Weichen neu gestellt und an die Schaltstellen unbelastete Fachleute gestellt und sie mit neuen Kompetenzen ausgestattet.

Der wichtigste Mann vor Ort ist Massimo Osanna, der seit März 2014 als Pompejis oberster Denkmalpfleger amtiert. Wir treffen den Leiter der „Soprintendenza Speciale per i Beni Archeologici di Pompei, Ercolano e Stabia“, wie die Behörde offiziell heißt, in seinem eher schlichten Amtssitz, der sich nur wenige Hundert Meter vom Haupteingang der berühmten Ausgrabungsstätte befindet.

„Wissen Sie, Pompeji, das ist wie ein kaputtes Auto, das jetzt repariert werden muss, damit es wieder in Gang kommen kann“, sagt der temperamentvolle Archäologe, der nicht nur an renommierten italienischen Universitäten gelehrt hat, sondern auch als Gastprofessor in Paris, Heidelberg und Berlin. Seit der Entdeckung im Jahr 1748 habe das antike Ruinenfeld Glanzzeiten und prekäre Phasen erlebt, sagt Osanna, der der Regierung in der jüngeren Vergangenheit gleich mehrere Fehler ankreidet: So habe Rom dem Weltkulturerbe Pompeji jahrelang nicht nur deutlich zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet und zu wenig Geld zur Verfügung gestellt, sondern auch fatale Fehler bei der Besetzung von Positionen gemacht. So gab es bis vor Kurzem neben dem Soprintendente auch noch einen mit großer Machtfülle ausgestatteten Manager, der zum Beispiel dafür sorgte, dass in dem historischen Amphitheater Shows veranstaltet wurden – aus konservatorischer Sicht eine fatale Entscheidung. Aber inzwischen sind die Kompetenzen klar geregelt, Osanna hat jene qualifizierten Fachleute gefunden und eingestellt, ohne die er das „Grande Progetto Pompeji“ nicht durchsetzen könnte: nicht nur Archäologen, sondern zum Beispiel auch technische Assistenten und Bauingenieure. Mit diesem hoch motivierten Stab ist er jetzt dabei, Dinge nachzuholen, die seit Jahrzehnten versäumt wurden: „Für mich geht es nicht um spektakuläre Einzelprojekte, sondern darum, die archäologische Substanz von Pompeji dauerhaft zu sichern. Wir nehmen die einzelnen Regionen, in die die Ausgrabungsstätte eingeteilt ist, einzeln in Angriff, untersuchen Stück für Stück und Mauer für Mauer, um Schäden festzustellen, die wir dann sofort beheben“, sagt Osanna, der unbedingt weitere Einstürze verhindern will.

Die Aufgabe ist gewaltig, denn es geht nicht nur darum, Mauern zu sichern und zu stabilisieren, sondern auch um die dringend nötige konservatorische Behandlung von unwiederbringlichen Wandmalereien und Mosaiken in einigen der Häuser. Dabei drohen auch noch Gefahren von ganz anderer Seite, etwa aus dem Bereich von Pompeji, der nicht ausgegraben ist. Dieser muss dringend mit einer Kanalisation entwässert werden, sonst kann das Terrain ins Rutschen kommen und Teile der Ausgrabungen verschütten. Bis Ende 2015 läuft das „Grande Progetto“, dann müssen alle Arbeiten erledigt und die Gesamtsumme von 105 Millionen Euro ausgegeben sein.

Für Osanna ist das durchaus kein „Luxusproblem“, sondern – gerade in der Gegend von Neapel – eine echte Herausforderung, denn eine solche Summe ruft zwangsläufig die organisierte Kriminalität auf den Plan, die in Gestalt der Camorra früher auch in Pompeji bestens im Geschäft war.

„Wenn früher Aufträge vergeben wurde, bekamen sie merkwürdigerweise immer dieselben Firmen, die aber in der Regel nicht die Qualität lieferten, die vertraglich vereinbart war“, sagt Osanna, der für die Auftragsvergabe völlig neue Richtlinien aufgestellt hat. „Alles muss transparent sein, das betrifft jede Auftragsvergabe, aber auch die anschließende Qualitätskontrolle“, sagt der Soprintendente, der alle Verträge von unabhängigen Rechtsanwälten prüfen lässt. Bei seinem Bemühen um Transparenz hilft ihm die enorme internationale Aufmerksamkeit, die sich gerade jetzt auf Pompeji richtet. Denn die Schreckensnachrichten von den einstürzenden Altbauten am Fuße des Vesuvs haben das Interesse nicht gemindert, eher im Gegenteil: In den letzten Jahren wurde die Ausgrabungsstätte jeweils von etwa 2,3 Millionen Touristen besucht. Für das Jahr 2017 hatte die EU 2,7 Millionen geschätzt, doch schon dieses Jahr wird Pompeji wohl die Drei-Millionen-Marke knacken. Das hat Vorteile, denn dank eines neuen Gesetzes kann die Soprintendenza die nicht unbeträchtlichen Einnahmen aus dem Ticketverkauf (Tagesticket elf Euro) behalten. Aber so ganz glücklich ist Massimo Osanna über die Besuchermassen trotzdem nicht. „Wir haben zwar den freien Eintritt für Senioren abgeschafft, dafür gilt an jedem ersten Sonntag im Monat freier Eintritt für alle“, sagt er. Der Erfolg ist ebenso eindrucksvoll wie furchterregend, so drängten sich zum Beispiel am ersten Septembersonntag 18.300 Menschen auf der Ausgrabungsstätte.

Weil er einerseits auf hohe Besucherzahlen angewiesen ist, andererseits die dadurch zwangsläufig entstehenden Schäden möglichst gering halten will, setzt Osanna auf eine Kanalisierung. „Wir werden künftig noch mehr Häuser öffnen und damit auch dem unterschiedlichen Interesse unserer Besucher Rechnung tragen, die das Gelände in Zukunft auf mehreren thematischen Routen kennenlernen können“, sagt der Chef der Antikenverwaltung, der irgendwann auch Tickets mit Zeitfenstern einführen möchte.

Dass es mit dem „Grande Progetto“ möglich sein wird, schon bis Ende 2015 die Voraussetzung für die dauerhafte Substanzsicherung von Pompeji zu schaffen, davon ist Massimo Osanna überzeugt „Damit ist es aber nicht getan“, sagt der Archäologe am Ende unseres Gespräches und wechselt dabei vom Italienischen ins Deutsche. „Mit dem großen Projekt reagieren wir auf einen Notstand, aber in Zukunft müssen wir so etwas von vornherein verhindern. Pompeji ist eine Aufgabe, die uns ständig fordert. Wir brauchen Experten, die die Substanz Tag für Tag beobachten und sofort auf Schäden reagieren“, sagt Massimo Osanna. Brauchen Sie vielleicht eine Art Bauhütte? „Genau das ist es“, sagt der Archäologe zum Abschied: „Dieses deutsche Wort trifft es vielleicht am besten.“

An diesem Herbstnachmittag sind noch Tausende Touristen aus aller Welt auf dem riesigen Areal von Pompeji unterwegs. Manche lassen sich in Gruppen durch die Via di Stabia und die Via dell’ Abondanza führen, besuchen die berühmten Häuser, die Tempel und Thermen und lauschen den mehr oder weniger sachkundigen Ausführungen ihrer Fremdenführer. Andere lesen eifrig in Kunstführern, vergleichen die Grundrisse mit den Mauern, die den Ausbruch des Vesuvs, die Wiederentdeckung und auch die lange Vernachlässigung überstanden haben. Noch stoßen die Besucher immer wieder an Absperrgitter oder werden von rotweißen Bändern aufgehalten, die den Zugang zu einsturzgefährdeten Bereichen verwehren, doch das wird bald der Vergangenheit angehören. Die altrömische Stadt, die seit 1997 Unesco-Kulturerbe ist, weil der Alltag der Antike hier wie in einer Zeitkapsel konserviert wurde, scheint wieder eine Zukunft zu haben. Fast in letzter Minute wurde ihr zweiter Untergang noch abgewendet.