Mit der Platte “Schall & Wahn“, die jetzt erscheint, bewegt die Band sich zwischen Hochkultur und Kalauern. Motto: “Im Zweifel für den Zweifel“.

Hamburg. "Kasperle-Bühne." Ein Wort, das die Liste der Assoziationen zu Tocotronic nicht unbedingt anführen dürfte. Doch wenn Schlagzeuger Arne Zank über seine Band spricht, ist das Alberne, Skurrile eines der Spielfelder, die er absteckt. Verwunderlich. Denn auf der Platte "Schall & Wahn", die das Quartett am 22. Januar im Uebel & Gefährlich präsentiert, geht es verbal teils wenig zimperlich zu.

" Das Blut an meinen Händen/Ist von Dir/Ich habe es nicht selbst vergossen/Ich war zu feige/Zu verdrossen/Ich brauchte Dich dafür ", heißt es etwa in dem Song "Das Blut an meinen Händen". Er habe sehr lachen müssen, als Sänger und Texter Dirk von Lowtzow ihm diesen Text per Mail geschickt hat, erzählt Zank. "Diese Drastik nimmt man eher als herrlichen Quatsch wahr, nicht als so gefährlich. Das sind halt Rocktexte."

Den schrulligen Band-Humor zu betonen ist gewiss auch probates Mittel, sich nicht von allzu bedeutungsschwangeren Interpretationen überdefinieren zu lassen. Denn seit ihrer Gründung 1993 wurden die Hamburger rasch zu Identifikationsfiguren für eine Generation, die "irgendwie dagegen" sein wollte, denen die Parolen des Punks aber zu platt erschienen. Slogans wie "Wir kommen, um uns zu beschweren" ließen sich von der studentischen Hörerschaft flugs in die Erfahrungswelt des oft bürgerlichen Elternhauses einsortieren. Eine höfliche Revolte.

"Oft wird alles so wahnsinnig eins zu eins genommen", erklärt Zank. Dabei sehe sich die Band eher "im Reich der Kunst verortet als im Agitprop". Und "Kunst", das bedeutet im tocotronischen Kosmos eine Mixtur aus Hochkultur und Kalauerei. Der Titel "Schall & Wahn" etwa ist einem Roman von William Faulkner entlehnt, andererseits wird in der ersten Single "Macht es nicht selbst", einer Art Anti-Heimwerker-Hymne, pubertär gewortwitzelt: " Wer zu viel selber macht/Wird schließlich dumm/Ausgenommen Selbstbefriedigung ". Thomas Meadowcroft, Komponist für Neue Musik, hat für drei Lieder Streicher arrangiert, "Stürmt das Schloss" hingegen ist eine roh hinausgepfefferte Casting-Kritik. Harsche Sätze wie "Die Folter endet nie" kontrastiert von Lowtzow mit einem artifiziell übersteigerten Gesang, wie er ihn auch in seinem Projekt Phantom/Ghost pflegt. Dass das Manierierte wahrhaftig wirkt, das Märchenhafte real und das Blödelnde subtil, das ist die Wonne dieser Platte.

Feierte das Vorgängerwerk "Kapitulation" 2007 noch das Scheitern, sind neue Songs wie "Bitte oszillieren Sie" und "Im Zweifel für den Zweifel" Hymnen auf das Dazwischen. Schubladen? Fehlanzeige. Auch optisch. Dass sich Tocotronic Punk- und Rock-Posen, dem Breitbeinigen und Rotzigen, bewusst enthalten, zeigt das Pressefoto. Die vier blicken den Betrachter wie von einem komponierten Familiengemälde aus dem 19. Jahrhundert an. Freundlich, ernst und offen. Lediglich Turnschuhe und Tattoos von Gitarrist Rick McPhail durchbrechen die antiquierte Aura. Fotografin Sabine Reitmeier hat das Porträt als Gegenentwurf zu klassischen Bandfotos konzipiert. Bilder, die unter dem Motto "So, jetzt stellt euch mal da vor die Mauer und seid locker drauf" entstanden, empfindet Zank als schrecklich. Wie sich die Musiker hier an Händen halten und Schultern fassen, hat etwas Zärtliches, Stolzes.

Das Ensemble kann als Sinnbild gewertet werden, wie sehr Tocotronic zum Quartett zusammengewachsen ist, seit McPhail 2004 als fester zweiter Gitarrist hinzukam. Das Familiäre vermittelt sich auch beim Interview, das die Band nicht, wie gerne üblich, im Hotel abhält, sondern in McPhails Wohnung zwischen Schanze und Altona, wo sie auch probt. Für Zank ist Tocotronic viel mehr als ein Zweckverbund. "Wir definieren uns nicht über die Instrumente. Dass wir aus Virtuosentum sagen, wir brauchen einen Bassisten, ist uns recht unvorstellbar."

Der Gefahr, mit professionellem Muckertum zu langweilen, wird Tocotronic wohl nie erliegen. Doch von den dahingeschrammelten Akkorden der Anfänge sind sie ebenfalls weit entfernt. Immerhin titelt das Musikmagazin "Rolling Stone" in seiner Januar-Ausgabe: "Deutschlands beste Band". Und wenn ein Album schon den Schall im Namen trägt, überrascht es nicht, dass sich auch Produzent Moses Schneider dem Thema Klang bei den Aufnahmen in Berlin auf besondere Weise näherte. Sein Ansatz war diesmal ein cineastischer. Schneider nahm die Musik der gesamten Band live von verschiedenen Perspektiven auf, positionierte die Mikros mal nah, aber nutzte auch die Größe des Raums, um das Material im Anschluss zusammenschneiden zu können. "Um ranzuzoomen oder in den Weitwinkel zu gehen", wie McPhail erläutert. Vor allem zu Beginn und Ende der Platte, wenn die Band in satten Achtminütern improvisiert, findet sich auch musikalisch ein zweites großes Thema: das Rauschhafte. Denn das Live-Spiel entfaltet eine heftige Sogwirkung in seiner Opulenz.

Wenn Tocotronic jetzt " Eine Flanke gegen den gesunden Menschenverstand " beschwört, beschließt das auch inhaltlich ihre Berlin-Trilogie, die 2005 mit dem Album "Pure Vernunft darf niemals siegen" eröffnet wurde.

Der Wahn im Titel wird auf dem Cover durch Konzeptkunst von Jeroen de Riijke und Willem Derooij konterkariert, die gebundene Blumen zeigt. Weniger Rock-Pose geht kaum als mit diesem Spießerstrauß. Doch auch wenn Tocotronic mittlerweile so aussieht: Sie sind keine Streber. Auch keine elitären Nightliner-Typen. "Wir mögen es nach wie vor, auf Tour mit unserem Sprinter rumzufahren", sagt McPhail. Eine fahrende Kasperle-Truppe.

Tocotronic: Schall & Wahn (Universal), VÖ: 22.1., das Konzert am 22.1. im Uebel und Gefährlich ist ausverkauft, nächster Live-Termin: 13.3. + Zusatzshow am 14.3.2010, Große Freiheit