Das renommierte Living Dance Studio aus Peking gastiert auf Kampnagel

Die große Hungersnot in China ist bis heute ein großes Trauma. In den Jahren 1958 bis 1961 führten Trockenheit, schlechte Witterung, aber auch politische Maßnahmen der Kommunistischen Partei („Großer Sprung nach vorn“) dazu, dass offiziell 15 Millionen Menschen starben, inoffiziell wird von einer weit höheren Zahl von mindestens 45 Millionen ausgegangen. Es ist auch in diesen Zeiten nicht leicht für chinesische Künstler, dieses Trauma aufzuarbeiten.

Wu Wenguang, die Choreografin und ehemalige Pina-Bausch-Tänzerin Wen Hui sowie die Tänzerinnen und Tänzer des Pekinger Living Dance Studio finden dafür wirkungsvolle Bilder und Bewegungen. Mit gleich zwei Abenden gastiert die 1994 gegründete erste unabhängige zeitgenössische Kompanie Chinas vom 21. bis 23. November auf Kampnagel. „Memory II: Hunger“ reflektiert die fehlgeleitete Politik der landwirtschaftlichen Kollektivierung. Kern sind Interviews mit mehr als 400 Überlebenden, die Freiwillige in mehr als zehn Provinzen für ein Dokumentationsprojekt geführt haben.

In beiden Tanzperformances geht es um Historie und Gedächtnis

In der Tanzperformance stehen nun die Interviewer auf der Bühne und werden mit den Filmaufnahmen konfrontiert. Nur mithilfe von Taschenlampen und einem Projektor erzählen sie von der erschütternden Realität der Hungersnot, die Menschen dazu brachte, angesichts kleiner werdender Reisportionen sogar die Spreu aus ihren Kopfpolstern zu verspeisen. Sie erzählen aber auch vom wechselvollen Verhältnis von Individuum und Kollektiv. Ganz nebenbei geht es auch um die Folgen der Urbanisierung und der Entfremdung von familiären Zusammenhängen.

Auch der zweite Abend „Listening to Third Grandmothers Stories“ befasst sich mit den Themen Historie und Erinnerung. In dem autobiografisch gefärbten Stück reflektiert Wen Hui selbst über eine überraschende Begegnung mit ihrer 83-jährigen Großtante in ihrem Heimatdorf. Sie wird zur „dritten Großmutter“ und gibt verblüffende Einblicke in ganz unterschiedliche Dynastien. Der Zuschauer wird Zeuge einer Lebensgeschichte, die im Jahr 1940 beginnt, im Alter von zwölf Jahren heiratet die Großtante, mit 14 Jahren bekommt sie ihr erstes Kind. Mit 21 Jahren erlebt sie die Befreiung Chinas und die Jahre der Landreform. Wen Hui reflektiert über unterschiedliche Prägungen, der stärker individuellen ihrer Großtante und ihrer eigenen, eher kollektiv ausgerichteten. „Unsere Erinnerungen sind Erfahrungen des Körpers. Wie können sie die Gesellschaft und die Geschichte verändern?“, fragt Wen Hui.

Anlässlich eines Auftritts bei den Wiener Festwochen bescheinigten Kritiker den Performances des Living Dance Studios poetische Erinnerungsarbeit, Meditation und Geschichtslektion zugleich zu sein. Rare Gäste, die man nicht versäumen sollte.

Living Dance Studio: „Listening to Third Grandmothers Stories“ Mi 19./Do 20.11., jew. 20.00 „Memory II: Hunger“ Fr 21./Sa 22.11., jew. 20.00, , Kampnagel (Bus 172, 173), Jarrestr. 20-24, Karten zu 12,- bis 22,-/erm. 8,-, Kombiticket 18,- bis 30,-/erm. 14,-; www.kampnagel.de