Misha Anouk wurde in eine strenggläubige Familie der missionarischen Gemeinschaft hineingeboren. Dann brach er mit seinem Bekenntnis zu Dämonen und dem bevorstehenden Weltuntergang – und damit mit seinen Eltern und vielen Freunden. Sein Buch über den Ausstieg ist ein Leitfaden für alle, die aus einer Sekte rauswollen

Zeugen Jehovas klingeln immer dann an der Tür, wenn die Chance besonders groß ist, jemanden zu Hause anzutreffen, also vorzugsweise um die Mittagszeit am Wochenende. Werden sie abgewiesen, bleiben sie freundlich. Sie stehen bei Wind und Wetter an zugigen Bahnhofsecken, in Fußgängerpassagen oder vor Bahnhöfen, den „Wachtturm“ und das begleitende Magazin „Erwachet“ in den Händen. Das öffentliche Predigen und Missionieren gehören zu ihren Pflichten, wie das tägliche Selbststudium der Bibel und die Besuche ihrer Zusammenkünfte im „Königreichssaal“, für gewöhnlich dreimal pro Woche. Sie stecken sehr viel Energie und Zeit in das Evangelisieren, das sie gemäß ihrer Selbstdarstellung als Alleinstellungsmerkmal ihrer Glaubensgemeinschaft ansehen – bis zu 40 Stunden pro Woche, neben ihren eigentlichen Berufen und den üblichen Pflichten und Diensten. Rund 165.000 Menschen in Deutschland (und etwa acht Millionen Menschen weltweit, die meisten davon in den USA) legen sich für Gott und seinen Sohn Tag für Tag gewaltig ins Zeug.

Zeugen Jehovas sind beseelt vom Glauben an den Weltuntergang – der „endzeitlichen Entscheidungsschlacht bei Harmagedon, in der Gott durch seinen Sohn Jesus Christus in der Gestalt des Erzengels Gabriel zusammen mit dem Engelheer das Weltsystem Satans beseitigen und durch das verheißene tausendjährige Friedensreich ersetzen werde“. Nach dem zu erwartenden Sieg werde Gott dann den als treu befundenen Menschen entweder ein ewiges Leben auf der Erde in paradiesischen Zuständen oder sogar unsterbliches Leben im Himmel gewähren; Verstorbenen böte sich jetzt eine gute Gelegenheit auf eine irdische Auferstehung.

Doch ausgerechnet der Platz im Himmel könnte knapp werden: Nur 144.000 „Gesalbte“ sollen nach der Bibelauslegung der Zeugen Jehovas die Chance erhalten, gemeinsam mit Christus als Priester und Könige „ein Königreich“ zu formen, das die auf der Erde verbliebenen Menschen während einer „Tausendjahreherrschaft“ zur Vollkommenheit führen soll.

Sind die Zeugen Jehovas christliche Fundamentalisten oder doch eine Sekte? Handelt es sich um Menschenfänger? Sind sie gefährlich oder bloß gaga? Für die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin ist es „eine konfliktträchtige Organisation mit sektenähnlichen Merkmalen“. Was politisch ziemlich korrekt klingt.

Misha Anouk, 32, in Gibraltar als Sohn eines Franzosen und einer Deutschen geboren (die beide bis heute für die Zeugen Jehovas missionieren und predigen) und ab dem vierten Lebensjahr in Bielefeld aufgewachsen, lebt zurzeit in Wien, wo er als Blogger, Journalist, Poetry-Slammer, aber auch als „freier Berater für Sekten-Aussteiger“ arbeitet. Jetzt darf er sich zusätzlich noch Buchautor nennen: Am 5. November wird der Reinbeker Rowohlt-Verlag seinen Aussteigerreport „Goodbye, Jehova! – Wie ich die bekannteste Sekte der Welt verließ“ im Nochtspeicher auf St.Pauli präsentieren, ein ungewöhnlicher Termin so kurz nach der Frankfurter Buchmesse. Vielleicht aber auch nicht ganz ungeschickt, denn selbst bemerkenswerte Bücher können in der Masse der Neuerscheinungen untergehen.

Um es vorwegzunehmen: „Goodbye, Jehova“ ist ein bemerkenswertes Buch, hervorragend geschrieben und akribisch recherchiert. In den persönlich gehaltenen Passagen geht es nicht selten regelrecht komisch, ironisch und sarkastisch zu, während die informativen Abschnitte eine minutiöse Beschreibung der Sitten und Gebräuche, der Lehren und Fehlinterpretationen sowie der straffen Organisationsstruktur dieser mächtigen und millionenschweren Glaubensgemeinschaft liefern, die im Jahre 1879 aus der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung hervorging, die von dem amerikanischen Bibelforscher Charles Taze Russell gegründet wurde.

Auffällig ist, dass da mit Misha Anouk einer über eine Kindheit und Jugend voller Zwänge und Pflichten geschrieben hat. Über eine – aus unserer Sicht – wahrhaftig beengte und unfreie Welt einer christlichen Glaubensgemeinschaft, die mit abstrusen Weltanschauungen, nachweislich falschen Prophezeiungen und extrem fragwürdigen Bibelinterpretationen daherkommt; eine Organisation, die ihre Stärke vor allem der Freiwilligkeit und Opferbereitschaft ihrer Mitglieder verdankt, die nach außen hin eine reine, sittsame, gerechte und glückliche Gesellschaft verkörpern, aber hinter verschlossenen Türen zum Teil genauso unvollkommen agiert wie alle anderen Menschen draußen.

Hinzu kommt, dass die Zeugen Jehovas extrem obrigkeitshörig sind und – zu unser aller Verwunderung – gegen sämtliche inneren Widerstände, gegen die Logik und sogar gegen alle Naturgesetze an ihrem Glauben festhalten: „Wenn die Leitende Körperschaft sagt, zwei und zwei ist fünf, dann ist das so“, zitiert Misha Anouk beispielsweise einen „Ältesten“ aus seiner Versammlung.

Doch anstatt sich über solch eine Aussage zu mokieren, setzt er sich dann gefühlvoll mit der inneren Zerrissenheit dieses Zeugen auseinander, der selbstverständlich auch einmal in der Schule gelernt hat, dass das Ergebnis dieser Addition „vier“ lauten muss.

Nein, unbändigen Zorn und hasserfülltes Schäumen werden Anouks Leser zugunsten der Glaubhaftigkeit vergeblich suchen. „Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, das Buch überhaupt zu schreiben“, sagt Misha Anouk schlicht, „ich wollte es auf keinen Fall aus einer Wut heraus tun, denn die Sache an sich ist stark genug. Das muss man nicht auch noch aufbauschen...“

Wir haben uns im Kaffeekontor im Schanzenviertel verabredet, wo österreichische Kaffeespezialitäten wie eine „Melange“, ein „Verlängerter“ oder ein „Einspänner“ kredenzt werden. Ich hatte angenommen, dies sei vielleicht eine gute Idee, um rasch eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu erzeugen, aber Misha Anouk entscheidet sich ohne Zögern für einen „schönen deutschen Pott Kaffee“, den er in Wien „schon arg vermissen würde“. Und reden tut er vom ersten Moment an. Wie sein Buch.

Er schaut ein wenig nach Hipster aus. Misha Anouk trägt eine markante Brille, hat einen Vollbart und dichtes dunkles Haar. Zwei Knöpfe seines Oberhemds sind geöffnet, die Spitze eines Tattoos über seinem Herzen sind sichtbar. Es sei, wie er lächelnd sagt, nicht das einzige – vermutlich sind es die Symptome seiner neuen Freiheit. „Aber“, sagt er, „es gibt unbestritten Menschen, die sich in diesen festen Strukturen wohlfühlen. Sie bieten denjenigen, die keinen Halt haben, ein Heim. Ich kenne welche, denen nehme ich es voll und ganz ab, dass sie glückliche Zeugen Jehovas sind.“

Misha Anouk war es nicht. Als er klein war, lief er – gemeinsam mit seinem Bruder – jedoch noch problemlos mit. Und als Heranwachsender auch. So schildert er sein großartiges Erlebnis, als er in einer der regelmäßigen Versammlungen zum ersten Mal das Mikrofon für die Frager halten durfte. Die Brüder hatten aber vielleicht auch das Glück, dass die Eltern, die zwar engagierte Missionare, aber keine fanatischen Eiferer waren, ihre Söhne nicht komplett von der Außenwelt abschotteten. Sie bekamen sogar Geschenke zu Weihnachten, obwohl dieses Fest für die Zeugen Jehovas tabu ist, wobei die Eltern ihren Hochzeitstag als Ersatztermin für den Heiligabend wählten, denn die Söhne sollten nicht als Außerirdische auf dem Schulhof erscheinen. Und auch Fußball auf dem Bolzplatz war allemal drin, natürlich nur, wenn die Brüder ihre auferlegten Pflichten sorgfältig erfüllt hatten, worunter auch das tägliche Studium der Bibel gehörte.

So konnte es nicht ausbleiben, dass Misha Anouk ebenfalls im festen Glauben an den Weltuntergang aufwuchs, der – anfangs von Russell, später von der „Leitenden Körperschaft“ – bereits mehrfach genau terminiert worden war: Aber weder 1874 noch 1914, 1918, 1925 oder 1975 ging die Welt unter, obwohl sich die jeweiligen Endzeit-Prophezeiungen stets auf „überzeugende biblische Beweise“, „unbestreitbare Tatsachen“ und „voller Gewissheit und über jeden Zweifel hinaus auf feststehende Wahrheiten“ gestützt hatten. „Das war natürlich immer ziemlich unangenehm“, sagt Anouk, „denn viele Zeugen Jehovas hatten sich dadurch völlig umsonst auf den Weltuntergang vorbereitet, indem sie ihre Jobs kündigten, ihr Hab und Gut verkauften, um sich mit Vorräten einzudecken und dann in irgendeinem Kellerloch angstvoll auf Harmagedon zu warten.“

Und als ihnen dann irgendwann klar wurde, dass die Welt weiterbestehen werde, lag im „Königreichssaal“ bereits ein „neues Licht“ aus der Zentrale vor – eine flugs aktualisierte Bibelauslegung, mit der man den Weltuntergang einfach wegerklärte. Inzwischen, so Anouk, sei man in der Zentrale mit genauen Datumsprophezeiungen vorsichtiger geworden.

Für ihn seien die Zeugen Jehovas aber selbstverständlich keine Gefahr für einen Staat. „Aber auf der persönlichen Ebene, wenn du ein Mensch bist, der sich frei entfalten möchte und sich das Recht herausnimmt, so zu sein, wie man ist, dann ist die Gefahr groß, dass du darin gefangen wirst.“

Misha Anouk brach jedoch schließlich nicht aus einer Laune heraus mit der Familie und seinem gewohnten Umfeld. Es war kein spontaner Entschluss, sondern ein langwieriger, komplizierter Prozess und innerer Kampf – ein Zusammenspiel aus Durst nach Freiheit, jugendlicher Aufbruchstimmung und Abenteuerlust und nicht zuletzt seinem Appetit auf Sex – auf lebensnahe Wärme und Geborgenheit, auf wahre Gefühle.

Andererseits war ihm nach 20 Jahren Mitgliedschaft bewusst, dass im Falle eines Ausschlusses aus der Gemeinschaft von einem auf den anderen Tag sein komplettes soziales Umfeld zerbrechen würde. Das hatte er schließlich schon mehrmals mitbekommen, denn er war nicht der Einzige, der zunehmend mit seinem gottesfürchtigen Leben zu hadern begann.

„Ich habe mir jahrelang drei Fragen gestellt“, sagt Anouk, „sie lauteten: Was erwarte ich selbst von meinem Leben? Was ist mir wirklich wichtig? Und wie viel Freiheit möchte ich haben?“ Freunde hätten ihn noch bis kurz vor seinem Ausstieg bekniet: „Bereue doch in der Versammlung! Bitte! Auch wenn du erst einmal nur so tust...“

Doch Anouk bereute damals, kurz vor Weihnachten 2003, seine zahlreichen Verfehlungen nicht, und es kam, wie es kommen musste. Er wurde ausgeschlossen, zu einer Persona non grata erklärt, und das hieß auch, dass sich seine Familie fortan von ihm abwenden musste. „Ich bin in ein Loch gefallen und lebte über zwei Jahre lang erst mal das typische Klischeeleben eines Sektenaussteigers. Irgendwie funktionierte ich zwar noch auf der Arbeit (Anouk war damals Mediengestalter in der Marketingabteilung der Sparkasse Herford), in meinem Zimmer betäubte ich mich nach Feierabend mit Alkohol und Drogen.“ Aber: „Ich habe schließlich großes Glück gehabt rauszukommen. Obwohl ich kein Vertrauen in andere Menschen besaß und Freundschaften und Beziehungen regelrecht sabotierte und obwohl ich in jedem Erdbeben in der ,Tagesschau‘ den Weltuntergang sah, habe ich immer wieder Menschen gehabt, die mir geholfen haben. Die mich letztlich davon überzeugt haben, eine Therapie zu machen, um die ständigen Panikattacken zu bekämpfen.“ Heute kann Anouk über die Dämonen lächeln, obwohl er den Schutzraum Gottes längst verlassen hat. „Wer sagt eigentlich, dass Dämonen böse sind? – Die Zeugen Jehovas sagen das!“ Es hört sich wie das sprichwörtliche Pfeifen im Wald an.

Seine Autobiografie kann als Leitfaden für Aussteigewillige (und die oft ratlosen Angehörigen, Partner und Freunde) aus Sekten verstanden werden, die sich in ihrer Struktur meist ähneln und nach gleichen Mustern funktionieren. „Aber wenn du wirklich überzeugt bist, gehe zum Jugendamt, hole dir professionelle Hilfe“, sagt Anouk. „Man sollte besser nicht allein versuchen, auszusteigen. Denn du glaubst fest an etwas, aber du weißt, dass du damit eigentlich falschliegst. Und diesen Kreis zu durchbrechen ist verdammt schwer.“ Mit seinen Eltern, sagt Anouk, habe er noch ungefähr einmal im Jahr Kontakt. Per SMS. Aber mit seinem Bruder habe er seit elf Jahren weder gesprochen, noch habe er ihn gesehen. Worüber er sehr traurig sei.

Misha Anouk, „Goodbye, Jehova“, rororo-Taschenbuch, 544 Seiten (9,99 Euro)