Musik

Die Berliner Debütantin Julia Kadel auf dem Jazz-Olymp

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Tom R. Schulz

Die Pianistin Julia Kadel bringt ihr erstes Album beim Label Blue Note raus, das in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen feiert. Am 24. Oktober spielt sie mit ihrem Trio auf dem Überjazz auf Kampnagel.

Ob Alfred Lion und Francis Wolff, die beiden während der Nazizeit aus Berlin in die USA emigrierten Begründer des Jazzlabels Blue Note, das neueste Signing ihres Spät-Nachfolgers Don Was gutheißen würden, lässt sich nicht mehr überprüfen. Die beiden großen jüdischen Exilanten, die mit ihrer Label-Schöpfung ab 1939 dafür sorgten, dass sich der Jazz – und zwar der amerikanische, ein anderer stand damals kaum zur Debatte – musikalisch wie ästhetisch über Jahrzehnte hinweg stilprägend entfalten konnte, sind schon lange tot. Der heutige Blue-Note-Boss Don Was aber glaubt sich im postumen Einvernehmen mit den Firmengründern, wenn er sagt, Alfred Lion, lebte er noch, würde Julia Kadel „mit Freude unter Vertrag nehmen“.

Julia wen? Julia Kadel – dieser Name war bis vor wenigen Monaten ein No-Name. Die grazile junge Frau mit dem asymmetrisch wilden Haarschnitt wurde 1986 in Berlin geboren, wuchs in Kreuzberg auf und spielte bis zum Abitur „immer aus Spaß“ Klavier. Danach aber sollte Schluss mit lustig sein. „Jetzt studierst du ne Wissenschaft, das brauchst du“, habe sie sich gesagt. Kadel schrieb sich an der Humboldt-Universität Berlin für Psychologie ein, fand die Spezialisierung auf Neurowissenschaft toll, absolvierte ihr Vordiplom und ertappte sich doch bei wachsendem Unglück. Denn das Klavier hatte sie in den drei Uni-Jahren kaum angerührt.

Maßnahme gegen das Unglück: wieder spielen – und weiter studieren. Auch Gesangsstunden wollte sie nehmen. Aber als sie der Berliner Jazzpiano-Koryphäe Julia Hülsmann vorspielte, sagte die ihr nach der zweiten Stunde: „Sag mal, Julia, was willst du denn? Mach doch Musik!“ Eine Woche lang brütete Kadel über die Ermunterung nach. Dann schmiss sie das Studium („Kann ich ja immer noch mal zu Ende bringen.“), bewarb sich an etlichen Musikhochschulen mit Jazz-Zweig und entschied sich schließlich für Dresden. Dort hat sie die letzten fünf Jahre studiert und erst am 10. Juli dieses Jahres ihr Diplomkonzert gespielt. Kein Wunder also, wenn selbst Insider den Namen Julia Kadel zum ersten Mal überhaupt im Zusammenhang mit eben diesem Blue-Note-Debüt hören.

Solche Karrieren waren selbst zur Gründerzeit des Labels unüblich. Auch die späteren Götter des Jazz fingen in der Regel als Sidemen an und bekamen irgendwann, nach etlichen Aufnahmen als Begleiter, ihre Chance zu etwas Eigenem. Julia Kadel aber hatte doppelt Glück: Erst empfahl der Trompeter Till Brönner seiner Plattenfirma Universal, die Trio-Aufnahmen zu veröffentlichen, die Kadel mit Karl-Erik Enkelmann (Bass) und Steffen Roth (Schlagzeug) in Berlin gemacht hatte. Im Zuge der Überlegungen, auf welchem der zu Universal gehörenden Label das Kadel-Debüt wohl am besten aufgehoben wäre, kamen die Aufnahmen Don Was zu Ohren – Blue Note gehört seit 2006 zu Universal. Und Was fand, Kadels originäre Musik schmücke durchaus sein Label, dessen ungebrochener Nimbus vornehmlich aus den ersten 30 Jahren seiner mittlerweile 75 Jahre währenden Geschichte herrührt.

Julia Kadel aber macht ganz woanders weiter, als Wolff und Lion in den 60er-Jahren aufhörten (das Label ging anschließend durch mancherlei Besitzerhände). Ihre Klaviertriomusik ist verblüffend frei von Klischees. Sie besteht aus null Gramm Retro-Jazz, aber auch aus null Gramm Anbiederei an irgendwas vermeintlich derzeit Angesagtes. Sie betritt auch nicht den Energieraum der mit Rock, Trance, Hymnen, Powerplay aufgeladenen Improvisationsmusik, wie sie Esbjörn Svensson und sein Trio als genuin europäische Position innerhalb der großen Tradition des Klaviertrios im Jazz einnahmen.

Kadels Musik ist feingliedrig, gern rhythmisch vertrackt und sperrig, und doch wirkt auch das Ausgedachte darin wie organisch gewachsen, als sei es nur so richtig. Im traumwandlerisch eng gefügtem Zusammenspiel mit ihren beiden Partnern gewinnen die Stücke zusätzlich an Punch. Man spürt, wie diese Musikerin in einiger Höhe ohne Netz ihre künstlerischen Balanceakte zwischen Intuition und Reflexion probiert. „Ich sehe keine Trennmauer zwischen dem, was ich erlebe, und dem, was ich spiele“, sagt sie. Die großen Pianisten der Jazzgeschichte hat sie im Studium allenfalls gestreift – erst jetzt will sie sich ihnen ausführlicher widmen, den Bill Evans’, Art Tatums, Oscar Petersons. So anders sie spielt: Deren Geist ist sie gar nicht so fern.

Julia Kadel Trio „Im Vertrauen“ (Blue Note).

Live am Fr, 24.10., 19.30, bei Überjazz auf Kampnagel im Rahmen von „75 Jahre Blue Note"