Hamburg. Die Geschichte liebt solche Gestalten – die Bekehrten, die Umkehrer, die Spät-Einsichtigen, vielleicht, weil sie so selten sind und weil der Mainstream ja eher dem Gegenteil huldigt: der vom Einzelnen nie infrage gestellten und beharrlich verwirklichten Vision. Jaron Lanier, der am Sonntag in Frankfurt mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, ist solch ein Umkehrer; einer, der sich vom Apologeten des Internets zum Mahner vor den Gefahren der vermeintlich grenzenlosen Freiheit in der digitalen Welt gewandelt hat, weil er erkannt zu haben glaubt, dass diese Freiheit nur eine Freiheit der ganz wenigen ist: der von ihm „Sirenenserver“ genannten digitalen Moloch-Dienste wie Google, Facebook, Twitter oder Instagram, deren Attraktivität für den so selbstauskunftsfreudigen Otto Couchpotato von heute nur den kleinen Nachteil hat, dass sie allmählich zur gesellschaftlichen Totalerosion führt.
Frankfurt und der Ort der Preisverleihung, die Paulskirche, erscheinen beide für Lanier wie bestellt. „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche“, lautet der satirisch-tiefgründige Zweizeiler von F.W. Bernstein aus der zweiten Frankfurter Schule. Der Friedenspreisträger mit den rotbraunen Dreadlocks, 1960 in New York als Kind jüdischer Einwanderer geboren – die Mutter eine Holocaust-Überlebende, der Vater entkam Pogromen in Russland –, zählt zu den Vordenkern und Mit-Erfindern der digitalen Gesellschaft. Er begann in den 80er-Jahren als Spiele-Programmierer bei Atari, erfand den Datenhandschuh und andere auf den Computer gestützte Technologien, etwa für 3-D-Grafiken im Kino, und lehrt heute an mehreren Universitäten in den USA. Es heißt, der Begriff „Virtuelle Realität“ sei von ihm geprägt worden. 2010 war Lanier unter den Kandidaten des „Time“-Magazins für die 100 einflussreichsten Leute der Erde.
Mit der Zeit wurde aus dem einst so affirmativen Elch des Computerzeitalters dessen vielleicht nicht gleich schärfster, doch zunehmend bestürzter Kritiker; Lanier, der auch Musiker ist, unter anderem im Ensemble von Philip Glass, erzählt, wie ihn Anfang des Jahrtausends, beim beginnenden Crash der Musikindustrie infolge der Digitalisierung, im Wochenrhythmus Leute um seine Mitwirkung bei Benefizkonzerten für Musiker baten, denen dadurch die Existenzgrundlage wegbrach.
Ihm dämmerte, dass da etwas nicht stimmen konnte mit der einst auch von ihm propagierten kostenlosen Allverfügbarkeit von Musik im Netz, wenn sie die Kreativen scharenweise in den Ruin treibt. Aus dem Saulus des Internet-Zeitalters wurde ein Paulus, der die Rückkehr des menschlichen Faktors in der virtuellen Welt einfordert, die Achtung vor der Kreativität des Einzelnen, die die Masse honorieren muss, will sie weiterhin von ihr profitieren. Dass es ausgerechnet die Paulskirche war, in der Lanier nun der Friedenspreis verliehen wurde, erscheint da als höhere Fügung. Sie wurde nach dem Namen des wandelbaren Apostels benannt.
Lanier nahm die mit 25.000 Euro dotierte und seit 1950 zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse vergebene Auszeichnung, die zuvor etwa an Albert Schweitzer, Jürgen Habermas, Orhan Pamuk, Susan Sontag oder Anselm Kiefer gegangen war, „nicht für mich allein“ an, wie er zu Beginn seiner Dankesrede sagte, sondern „im Namen der Weltgemeinschaft der digitalen Aktivisten und Idealisten, auch wenn viele von uns nicht einer Meinung sind“.
Tatsächlich macht man sich im Schwarm schnell Feinde, wenn man die Vergötzung dieses Schwarms und seiner vermeintlich über allem stehenden Intelligenz in Zweifel zieht. Wikipedia sei schlimmer als Facebook, die „Weisheit der vielen“ eine Illusion, postuliert Lanier, dessen Bücher „Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht“ und „Wem gehört die Zukunft?“ ihn auch zum viel gelesenen Autor machten. Andererseits trifft die Kritik des Insiders etwa am Datensammelwahn, an Big Data und der damit einhergehenden Möglichkeit zur totalen Überwachung des Individuums oder an den Google-Algorithmen und der dadurch immer passgenaueren Belieferung der Nutzer mit Werbeangeboten präzis den Zeitgeist. Jaron Lanier, äußerlich einem aufgepumpten Hobbit nicht unähnlich, ist die Galionsfigur des Roll-back von der Euphorie über das Internet 2.0.
Die Preisverleihung wurde live in der ARD übertragen. Die Fernsehkameras schweiften gelegentlich von der übers Pult gebeugten massigen Gestalt Laniers ab und zeigten die Gäste der Veranstaltung, denen man vielfach anzusehen meinte, dass ihnen die Ausführungen des Preisträgers recht nebulös erschienen, und das nicht deswegen, weil er sie in seiner Muttersprache vom Manuskript ablas. Man wird Laniers Rede nachlesen wollen, und man wird Zeit brauchen, die ihr zugrunde liegenden Gedanken nachzuvollziehen.
Beifall erhielt Lanier, wenig überraschend vor Zuhörern, die der Börsenverein des Deutschen Buchhandels geladen hatte, für seine glühende Verteidigung des Buchs aus Papier. Bücher seien nicht nur deswegen gut, weil „das Internet nicht zur einzigen Plattform der Kommunikation werden“ dürfe und uns am besten diene, „wenn es nicht gleichzeitig Subjekt und Objekt“ sei. Papier laufe zwar Gefahr zu brennen, vereitele dafür aber die Überwachung des Lesers durch die in E-Readern zum Einsatz kommenden Algorithmen.
Sein zunehmend von Emotion getragenes Plädoyer für den Primat der Menschlichkeit gegenüber dem Computer und der künstlichen Intelligenz widmete Jaron Lanier seinem Vater, der vor 60 Jahren der Vernichtung durch die Unmenschlichkeit entronnen war und der gerade in diesen Tagen in hohem Alter gestorben ist.
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