Serie Mauerfall, Teil 4: Eine Sächsin und ein Wiener feiern im Juni 1989 Hochzeit in der DDR. Marlies Fischer über das Fest fünf Monate vor dem Mauerfall

Kuchen jedenfalls gab es genug. Wäre ja auch gelacht, wenn die Tochter des führenden Bäckers aus Hartenstein im Erzgebirge heiratet und an Backwaren herrschte Mangel. Fruchttörtchen und Eierschecke, Erdbeerschnitten und eine Biskuit-Buttercreme-Rolle namens Bismarck-Eiche, Schwarzwälder Kirschtorte und Kokoskuchen – die Tische bogen sich am Nachmittag dieses 8. Juni 1989. Meine Cousine Angela Kühnert aus der DDR feierte Hochzeit mit ihrem Freund Peter Wunderbaldinger aus Österreich. Eine deutsch-österreichische Liebe in Zeiten von Mauer und Stacheldraht mit viel Sehnsucht, Bürokratie und Pragmatismus.

Ein halbes Jahr später hätte niemand gefragt, wo sich die Krankenschwester und der Tischler niederlassen möchten. Leipzig, Wien, Berlin – die ganze Welt hätten der damals 26-Jährigen und ihrem ein Jahr jüngeren Bräutigam offengestanden. Aber als sie sich auf den Termin für Standesamt und kirchliche Trauung festlegten, da war Reisefreiheit noch ein Fremdwort in der DDR.

Die OP-Schwester und der Tischler wollten ein gemeinsames Leben

Peter und Angela ging es wie vielen west-östlichen Liebespaaren – sie lernten sich im Urlaub kennen. Sie war im Sommer 1985 mit ihrer Freundin Ina nach Ungarn gereist, er machte eine Motorradtour mit seinem Bruder Hans. Ein Ferienflirt hatte es sein sollen, schöne Tage am Ufer des Plattensees mit romantischen Sonnenuntergängen, süßem Rotwein und verliebten Blicken mit begrenzter Haltbarkeit. Aber Angela und Peter konnten einander nicht vergessen. Lange Briefe gingen hin und her zwischen Wien und Leipzig, wo sie in einem Diakonissen-Krankenhaus als OP-Schwester arbeitete. Das Paar traf sich in Prag, machte zusammen Urlaub in Bulgarien am Schwarzen Meer. Praktischerweise hatten sich auch Ina und Hans ineinander verliebt, sodass die Freundinnen und die Brüder mit Sehnsucht und Trennungsschmerz nicht allein waren.

Und wie das so ist mit der Liebe – die Bäckerstochter und der Holzspezialist wollten ein gemeinsames Leben. Aber einfach eine Wohnung beziehen und ohne Trauschein ausprobieren, ob die Urlaubsliebe auch im Alltag bestehen kann, das war für die Sächsin und den Österreicher unmöglich. In der DDR bekam man nur als verheiratetes Paar eine Wohnung, und eine Umsiedlung nach Österreich kam für Angela nur als Ehefrau von Peter infrage. Natürlich hätte der Bräutigam auch in den anderen deutschen Staat umziehen können – gute Handwerker wurden immer und überall gebraucht – aber das war denn wohl zu viel des Guten.

Also heiraten. Auch Ina und Hans hatten sich zu diesem Schritt entschlossen. Im Sommer 1988 beantragte Angela einen Termin auf dem Standesamt in Leipzig und stellte gleichzeitig einen Ausreiseantrag auf Familienzusammenführung. Die Bürokratie ließ sich Zeit und nannte irgendwann den 7. Juni 1989 als Datum für die Eheschließung. Peter erbat wiederum rechtzeitig ein Einreisevisum zum Besuch in der Deutschen Demokratischen Republik. Auch seine Schwester Margarethe und Mutter Resi wollten bei den Trauungen der Brüder und Söhne dabei sein.

Die Hochzeit in Leipzig war unspektakulär, die Urkunden unterschreiben, Essen gehen und ab nach Hartenstein. Das große Fest sollte ohnehin rund um den Heimatort der Braut im Erzgebirge gefeiert werden.

Und so begann eine neue Runde der Schattenwirtschaft und Nachbarschaftshilfe, ohne die in der DDR der Alltag der Millionen normaler Bürger nicht funktioniert hätte, geschweige denn große Familienfeiern wie Hochzeiten, Taufen oder runde Geburtstage. In welchem Lokal soll das Fest stattfinden? Was gibt es zu essen und zu trinken? Wer macht die Musik? Wo wird Polterabend gefeiert? Was trägt die Braut? All dies galt es zu organisieren.

Egal ob Rotwein, Weißwein oder Sekt, in der DDR mussten sie lieblich sein

Und gut, dass die Bäckerei Kühnert als Handwerks- und Versorgungsbetrieb auch einiges zu geben hatte. Die zwei Fässer Wernesgrüner Bier – damals eine absolute Rarität – für den Polterabend lieferte die Getränkehandlung nur, weil dort ein paar mit Butter gebackene und üppig belegte Obsttorten landeten. Dank der guten Geschäftsbeziehungen brachte auch die örtliche Gärtnerei rechtzeitig den Brautstrauß und den Tischschmuck aus echten Blumen. Eine Schneiderin in Leipzig nähte Angelas Brautkleid.

Den Stoff hatte die Krankenschwester auch in der Messestadt „erwischt“, wie es damals oft hieß, wenn Kaufwunsch und Warenangebot sich mal optimal annäherten. Der Polterabend fand im großen Bäckerhaushalt statt, während die Hochzeitsfeier in einem Lokal zwischen Schule und Kirche im Nachbardorf Wildbach ausgerichtet werden sollte. Von dort stammte die Brautmutter, sie kannte den Gastwirt. Von „Location“ sprach damals noch niemand.

Die Speisefolge für das Mittagessen war schnell festgelegt: klare Brühe mit Einlage, Zunge und Lendenbraten vom Rind mit Gemüse und Kartoffeln, frische Ananas mit Sahne zum Nachtisch. Das Rindfleisch kam aus eigener Produktion, der Bäckerhaushalt hielt für die Hausschlachtung regelmäßig einen Ochsen auf der eigenen Wiese. Die Südfrüchte brachten meine Eltern und ich als Westverwandtschaft mit. Dazu gab es Bier, Sprudel, Schnaps und ungarischen Wein. Egal, ob rot oder weiß, Hauptsache lieblich. Auch der Sekt zum Anstoßen auf das Brautpaar war eher süß.

Den Discjockey machte ein junger Mann aus der Verwandtschaft, der damals glühender Depeche-Mode-Fan war. Aber auch Walzer und Schlager hatte er für die älteren Gäste parat. Und natürlich die Hits der DDR-Bands City und Karat sowie „Wie ein Stern“ von Frank Schöbel, dem ostdeutschen Roy Black.

Aber vor der Feier stand erst einmal die kirchliche Trauung. Der weiße Mercedes von meinem Vater, dem Bruder der Brautmutter und damit Westonkel von Angela, wurde per Blumenschmuck zum Brautauto, um am 8. Juni die wenigen Meter auf der Schotterstraße vom Bäckerhaus zur evangelischen Kirche des Ortes zurückzulegen. Familie Kühnert ist bis heute sehr gläubig und nahm dafür zu DDR-Zeiten viele Nachteile in Kauf. Angela und ihr älterer Bruder Thomas, der am Hochzeitstag auch noch Geburtstag feierte, durften deshalb zum Beispiel kein Abitur machen und nach ihren Ausbildungen zur Krankenschwester beziehungsweise Bäcker auch nicht studieren.

Die Trauung war ökumenisch – der örtliche Pastor für die Braut, der katholische Pfarrer aus der Kreisstadt Aue für den Bräutigam. Das Jawort ging dialekt-gefärbt und reibungslos über die Bühne, dazu Gesang, Orgelspiel, ungeduldige Blumenkinder und Tränen der Rührung. So wurde auch in der BRD millionenfach geheiratet.

Vor der Kirche plagte sich das Brautpaar mit einem Holzstamm und einer stumpfen Säge, dann ging es mit dem Mercedes, den Wartburgs und Trabis der rund 30 Gäste nach Wildbach in den Gasthof. Einladungen zu kühnertschen Festen waren in der Familie übrigens sehr beliebt – schließlich gab es immer etwas Gutes zu essen.

Nach dem Drei-Gänge-Menü vertrat sich die Hochzeitsgesellschaft die Beine. Wie halt solche Spaziergänge so sind. Mein Vater erzählte von früher und zeigte, wo er als Junge im Wald gespielt und Brombeeren gepflückt hatte. So mancher Gast klagte, das Mahl sei doch sehr reichhaltig gewesen. Die Mutter der Blumenkinder aus Leipzig berichtete, dass sie für ihr Leben gern selbst Gewürzgurken einlege und ihr sehnlichster Wunsch eine Fritteuse sei, am liebsten die aus der Werbung im Westfernsehen.

Ich staunte: An den Versprechungen der Werbung hegte ich gesunde Zweifel. Und so ein Apparat stand schon mal gar nicht auf meiner Liste der Begehrlichkeiten. Aber ich hätte ja auch einfach in einen Laden gehen und mir das überzeugendste Produkt kaufen können. Ich wollte lieber die „Jesuslatschen“ genannten Römersandalen für unter 20 Ostmark haben. Aber die waren einfach nicht zu erwischen. Heute gibt es sie übrigens im Internethandel ab 13,95 Euro.

Und ein weiteres deutsch-österreichisches Paar knüpfte zarte Bande: Beate, eine langjährige Freundin der Braut, und Franz, ein Freund des Bräutigams, fanden Gefallen aneinander. Sie heirateten dann im Sommer 1990 – nicht unbedingt mit weniger Bürokratie, dafür aber mit freier Wahl des Wohnortes.

Wir tranken, redeten, tanzten und sangen. Das Brautpaar musste allerlei dämliche Spielchen über sich ergehen lassen, meine Tante, die Brautmutter, hielt eine Rede, und auch mein Vater sagte ein paar Worte zu seiner Nichte. Als mein Cousin Thomas, sein jüngerer Bruder Gerd und ich anfingen, über Politik zu diskutieren, bekamen wir schnell einen Maulkorb verpasst. Trotz Familienfest war man nie sicher, wer zuhörte und Meldung machen könnte. Und außerdem, so wurde uns beschieden, sei das kein Thema für eine Hochzeit. Obwohl kurz zuvor der Volksaufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gewaltsam niedergeschlagen worden war.

Und natürlich aßen wir. Keine drei Stunden nach dem Mittagessen folgte die üppige Kaffeetafel. Und abends dann noch Büfett mit Braten und Schinken, gefüllten Eiern und Käse, Hähnchenkeulen und Heringssalat, Hochzeitsbrötchen und Graubrot aus dem eigenen Backofen. Bei Kühnerts sollte niemand hungrig nach Hause gehen. Was aber Bräutigam Peter nicht davon abhielt, nach dem Ende der Feier im Elternhaus der Braut die Speisekammer zu plündern und ein Glas Hausmacherleberwurst zu verputzen. Gute Partys enden immer in der Küche.

Am Tag darauf war Ausruhen angesagt. Abends gingen wir alle zum Polterabend von Ina und Hans, die am 10. Juni kirchlich heirateten. Angela und Peter sowie dessen Mutter und Schwester mussten also wieder tanzen, singen, reden. Und vor allem essen.

Am 11. Juni, einem Sonntag, machten die Krankenschwester und der Tischler schlapp. Vier Feste an vier Tagen. Zu viel Fleisch, zu viel Schnaps, zu viel Kuchen. Bäckermeister Thomas lud Peters Schwester Margarethe und mich zu einem Ausflug ins Gebirge ein. Gerd musste mit als Fahrer. Er würde nichts trinken, denn am nächsten Tag hatte der damals 18-Jährige mündliche Abiturprüfung.

Wir kurvten durch die Erzgebirgs-Landschaft und hatten Spaß im Wartburg. Zum Abendessen hatte sich Thomas das Ring-Café ausgesucht, damals das erste Haus am Platze in Zwickau. Der 29-Jährige wollte den Westmädels schließlich etwas bieten. Nur kurz mussten wir warten, bis wir platziert wurden an einem Tisch direkt am Fenster. Soljanka, Steak mit Letscho, gemischtes Eis mit Sahne wurden serviert, dazu ungarischer Weißwein vom Plattensee. Der schmeckte mir so gut, dass ich mir am nächsten Tag im Hartensteiner Konsum zwei Flaschen kaufte und mit nach Hamburg nahm. Aber zu Hause war der Tropfen nicht mal mit Eiswürfeln genießbar. Es lag wohl doch am Abend. Und der war wirklich sehr lustig und schön.

Die Festtage im Hause Kühnert gingen zu Ende. Gerd bestand sein Abitur, Thomas feuerte den Backofen wieder an, meine Eltern und ich fuhren zurück in den Westen, den Kofferraum voll mit Kuchen und Brot.

Angela und Peter begutachteten ihre Hochzeitsgeschenke, neben Geld Massen von Teelöffeln sowie Kuchengabeln, Weingläsern, Handtüchern und Wischlappen. „Einige davon habe ich immer noch“, sagt meine Cousine heute nach mehr als einem Vierteljahrhundert.

Der junge Ehemann musste wieder nach Wien. Und für Angela begannen die letzten Monate in der DDR, die Übersiedlung mit der österreichischen Botschaft und Finanzen mit der Staatsbank der DDR regeln, Wohnung auflösen, alles auflisten, was mit ins neue Zuhause sollte, alle Dinge, die älter waren als 20 Jahre, begutachten lassen, Abschied vom Job, Kollegen und Freunden. Ihren Pass durfte die junge Frau behalten. Wäre sie in die Bundesrepublik umgezogen, hätte die Deutsche Demokratische Republik sie aus der Staatsbürgerschaft entlassen.

Der orangefarbene Skoda ging als Geschenk an Bruder Gerd, denn Peter hatte ein Auto. Damit plus Hänger kam er Ende September 1989 nach Leipzig und Hartenstein, um seine Frau und ihre Habe abzuholen. Angela freute sich und war traurig zugleich. Neue Heimat Wien. Wann würde ihre Familie sie dort einmal besuchen können?

Gut sechs Wochen später fiel die Mauer. Reisefreiheit – Österreich, wir kommen.

Und Kuchen aus der alten Heimat bringen die Kühnerts auch nach 25 Jahren noch jedes Mal mit.

Den fünften Teil unserer Serie lesen Sie am Donnerstag, dem 25. September