Hamburg. Es gab Jahre, da konnte man mit auch nur einem Hauch von Ortskenntnis keinen Kino- und erst recht keinen TV-Film mitansehen, ohne angesichts des Hamburger Location-Salats schier wahnsinnig zu werden. Jemand trat in Eppendorf aus der Altbaupalast-Tür auf die Straße – und stand in Ottensen. Eben noch in der City und, Simsalabim: schon an der Strandperle. Geldgeile Industriebosse residierten in einem dieser zickigen Spesenritter-Bunker mit vollverglastem Elbblick. Spektakulärster Kinoschummler überhaupt war die „007“-Szene in „Der Morgen stirbt nie“ (1997), in der Pierce Brosnan seinen BMW vom Dach des Hotel-Atlantic-Parkhauses stürzen lässt und der Wagen auf der Mönckebergstraße landet. So bekamen Ortsunkundige zwar das wohlige Gefühl, diese Stadt sei überall allerliebst und hinreißend fotogen und alle Herrlichkeiten sind wie auf dem Präsentierteller arrangiert und fußläufig erreichbar. Doch mit der Wirklichkeit hatte das zurechtgeschminkte Szenario gar nichts zu tun.
Dieser Versuchung, sich einzig die Stadtmarketing-Postkartenmotive aufschwatzen zu lassen und sie dann auch noch, losgelöst von jeder Stadtplan-Realität, postkartengemäß artig abzufilmen, hat Anton Corbijn beim Dreh für „The Most Wanted Man“ konsequent widerstanden. Dennoch ist das Geld, das die hiesige Filmförderung in diese Imagewerbung investiert hat, gut angelegt. Denn Corbijns John-le-Carré-Verfilmungs-Hamburg, ab heute in den Kinos, ist unberechenbar. Unschick, rau und ehrlich. Corbijn trickst (bis auf eine kleine Ausnahme, die mit einer Fahrt zur Reeperbahn zu tun hat) auch nicht beim Trudeln durch die Stadtkulisse. Es gibt nicht nur das Oben, sondern auch das Unten. Vor allem das Unten, und das „irgendwie dazwischen“.
Diese Hansestadt ist keine Wohlfühlmetropole zum Liebhaben, sondern eine kalte Großstadt, in der man sich nie und nirgendwo sicher fühlen kann, mit Ecken, Kanten und vielen Brüchen. Und somit auf Augenhöhe mit der tragischen Größe, die der letzte Auftritt von Philip Seymour Hoffman prägt. Die letzte große Rolle vor seinem Drogentod, sein letzter Film, wohl nicht sein bester, obwohl das hundsmüde, mürbe Gesicht des Terrorbekämpfers Bachmann, den er im rumpeligen Mercedes durch die Straßen kutschiert, so unergründlich und genervt scheint wie das Sonderangebotslächeln einer Nebenstraßenhure, wenn es regnet.
Der letzte Film seit Wim Wenders’ 70er-Jahre-Klassiker „Der amerikanische Freund“, dem ein solches Porträt-Kunststück gelang, war Fatih Akins „Soul Kitchen“, aber der ist auch schon fünf Jahre alt. Obwohl: So ganz stimmt das nicht. Es gibt noch Sebastian Schippers „Absolute Giganten“ von 1999 mit einer Handvoll Loser, die sich vor der noch komplett unelbphilharmonischen Hafenkulisse eine letzte gemeinsame Nacht gönnen, bevor Schluss mit lustig ist und das Erwachsensein droht. Frank Giering, ebenfalls tragisch verstorben, spielt hier alles und jeden an die Wand und wer noch nicht in Hamburg wohnt, möchte nach diesem kleinen Film sofort die Umzugskisten packen und seine Seele an den nächstbesten Szeneviertel-Miethai verkaufen. Doch bei aller Liebe zu Schippers und Akins Verbrüderungen mit diesen charmant verpeilten Underdogs, für die jeder Elbvorort ein Paralleluniversum darstellt: In die Hollywood-Liga, in der jetzt Corbijns Thriller mitspielt, sind sie bei Weitem nicht gekommen. Zu klein, zu regional. Zu deutsch letztlich. Diese Chance hat Corbijn nun erhalten und, was die Optik angeht, beeindruckend genutzt. So schnell wird es kein Film aus Hamburg schaffen, diese Bilder im internationalen Kinogedächtnis zu verdrängen.
Natürlich kommt Corbijn an einigen Image-Immobilien nicht vorbei. Er zeigt Hafenbrücken im Dämmerlicht, die schwankenden Elbbarkassen, das flott geputzte Außenalster-Idyll, die Schnapsnasen im Silbersack und die Elbphilharmonie, aus mondäner Lifestyle-Bar-Perspektive betrachtet. Den Showdown verlegt er ins Brahmsquartier gegenüber der Laeiszhalle. Aber nichts davon ist nur Mittel zum Zweck.
Gerade erst nannte die „FAS“ das Hamburg, wie es dank Corbijn zu sehen ist, „eine Stadt des Handels und der Händel, der Gewissenhaftigkeit und der Gewissensnot“. Das trifft es schon ziemlich gut. Willem Dafoe, der in Corbijns Film einen windigen Banker spielt, beschrieb die Atmosphäre hier, zwischen britischem Anzugschnitt und deutscher Gründlichkeit, mit dem Motiv der Schifffahrt, „dem Kommen und Gehen“. „Hier ist alles flüssig, alles im Fluss: Geld, Menschen, Ideen.“ Kein Wunder also, dass der Film mit träge schwappendem Elbwasser beginnt, das vor einer Kaimauer wogt. Aus dieser trüben Brühe entsteigt ein Mann noch ohne Eigenschaften, vielleicht Flüchtling, vielleicht aber auch auf der Flucht vor höheren Mächten. Frisch angekommen in einer Stadt, die sich nach den Anschlägen vom 11. September nichts weniger leisten will als eine weitere Störung ihrer seit jeher guten Geschäfte.
Viele Szenen hat Corbijn mit einer Handkamera drehen lassen, er wollte nah ran an seine Akteure, nah an ihre Geschichten, erst recht an jene, die unausgesprochen bleiben. „Einfach nur beobachten, das ist etwas Schönes“, findet er. Dieser unverstellte, geduldige Blick ist es dann auch, der die Hansestadt ganz neu entdecken lässt. Wo sie so aufgeräumt und nassgekämmt ist wie in den Blankenese-Szenen mit Jaguar in der Villeneinfahrt, wirkt sie umso mehr nur wie vorgeschobene Kulisse. Rund um die mit Graffiti beschichteten Straßenzüge in Altona ist das Leben schwerer, billiger, geerdeter, noch metropoliger. Aber das handelsübliche Lokalkolorit mit der Sucht nach den schönen Stellen hat hier nichts verloren. Wer mit platter Action beballert und geblendet werden will, muss auf den nächsten Schweiger-„Tatort“ warten.
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