Von einem, der auszog, den Sozialismus kennenzulernen. Matthias Iken über eine desillusionierende Reise nach Leipzig, Wittenberg und Potsdam 1987

Als Reiseziel war die Deutsche Demokratische Republik 1987 für einen westdeutschen Teenager ähnlich beliebt wie die Thülsfelder Talsperre oder eine Landesgartenschau in Rheda-Wiedenbrück. DDR, das klang für uns Halbwüchsige nach politisch geförderter Studienfahrt in ein Land mit schlimmem Essen und noch schlimmerer Musik. Dementsprechend blieben die letzten freien Plätze für eine Jugendreise nach Leipzig, Wittenberg, Potsdam und Ost-Berlin lange leer – der Landesjugendring im Kreis Oldenburg musste mehrmals trommeln, um den Bus schließlich vollzubekommen. Was Bundeskanzler Helmut Schmidt dem ZK-Vorsitzenden Erich Honecker 1981 am Werbellinsee als Meilenstein deutsch-deutscher Annäherung abgerungen hatte, war in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit kaum als Mosaiksteinchen angekommen. Am Ende fanden sich ausreichend Neugierige. Mich lockte die Aussicht auf den unverstellten Sozialismus – oder das, was ich als 16-Jähriger dafür hielt. Man musste als Jugendlicher nicht Kommunist sein, um gewisse Sympathien für den Staat hinter der Mauer zu hegen: Wer aneckte, kritische Fragen stellte oder provozierende Antworten gab, dem wurde rasch bedeutet: „Dann geh doch nach drüben.“

Wir durften gehen – allerdings nicht, ohne zuvor intensiv geschult zu werden: Es herrschte Kalter Krieg, und so muteten die Reisevorbereitungen auch an. Zunächst mussten wir Grenzgänger zwischen 16 und Anfang 20 einen Sonnabend in einem Schulzentrum in Harpstedt absitzen. Als Referent trat ein DDR-Flüchtling auf, der uns über die Geschichte des Arbeiter- und Bauernstaates im Allgemeinen und seine persönliche Geschichte im Besonderen aufklärte, der von Sozialismus und Schießbefehl referierte, von Überwachungsstaat und Mangelwirtschaft. Wir waren empört, fühlten uns indoktriniert und schon vor der Reise politisch beeinflusst. Für den Republikflüchtling, der erst einige Monate zuvor die Grenze überwunden hatte, musste es eine bittere Erfahrung sein. Als der Ex-Ostbürger dann noch zu berichten wusste, es würde jeden Tag Rotkohl geben, war er für uns endgültig zur Karikatur des Kalten Kriegers geworden. Er sprach, wie damals nur noch Außenseiter im politischen Establishment redeten – wie die vermeintlichen Eiferer am rechten Rand der Union oder alte Kameraden im Schuldienst. Wer wie wir links tickte, war längst auf Äquidistanz zu beiden deutschen Staaten gegangen.

Der Zeitgeist hielt die DDR für eine ziemlich spießig geratene Ausgabe einer an sich duften Weltanschauung, die uns als Karibik-Sozialismus à la Kuba oder Nicaragua ziemlich sympathisch war. Wie heißt es in einem „Stern“-Bestseller über das „Leben in der DDR“ (1981): „Der Komplex, von den Westdeutschen nur als Staat zweiter Klasse gewertet, nicht anerkannt zu werden, sitzt tief und ist eine Erklärung für manche hysterische Reaktion an der Grenze.“ Mauer, Minen, Schießbefehl, alles irgendwie unsere Schuld...

Ich dachte nicht anders. Bevor wir über die Grenze durften, verbrachte uns ein Bus bei einem weiteren obligatorischen Vorbereitungsseminar an den Zonenrand nach Duderstadt, mit Blick auf Grenzanlagen, Wachtürme, Todesstreifen. Wir sahen alles und erkannten nichts. Vielleicht auch deshalb, weil das eine oder andere Einbecker Urbock zwischen den Schläfen nachwirkte. Auch darin lag eine Unwucht des politisch extrem aufgeladenen Jugendaustausches. Die Vereinbarung zwischen dem Deutschen Jugendring und der FDJ 1982 hatte Minister Egon Franke (SPD) in einer Erklärung als „weiteren erfolgreichen Schritt in der Gestaltung der innerdeutschen Beziehungen“ gelobt: „Zum ersten Mal seit Bestehen der beiden deutschen Staaten ist es damit möglich geworden, einen gegenseitigen Jugendaustausch zunächst in bescheidenem Rahmen auch für nicht organisierte Jugendliche zu verwirklichen.“ Von Ost nach West reisten 1983 rund 2000 junge Menschen, ostwärts hingegen 22.000 Jugendliche – drei Viertel allerdings nicht im offiziellen Jugendaustausch. Während Letztere vor allem eher touristisch organisierte Klassenreisen in den Osten waren, schickte die FDJ 300-prozentige Reisekader. Sie waren meist schon zwischen 25 und 30 Jahre alt, auf Herz, Nieren und staatsbürgerliche Treue geprüft, verheiratet und mussten Partner und Kinder daheim lassen. Man weiß ja nie. Immerhin wuchs der Jugendaustausch, allen politischen Irritationen zum Trotz, stetig. 1988 nahmen 5500 Jugendliche aus der DDR an einer Reise in den Westen teil, umgekehrt besuchten 74.000 Westjugendliche den Osten.

Anfang April 1987 fuhren wir in Helmstedt/Marienborn über die innerdeutsche Grenze. Das Wetter war grau, das Land hinter den Scheiben auch. Spannend wurde es erst, als der Bus von der Transitstrecke abbog und das Abenteuer Ost begann. Das, was wir sahen, wirkte wie die Mischung aus Expedition und Zeitreise. Als Kinder der 80er kannten wir Spaßbäder und Fußgängerzonen in der Provinz, nicht aber Landstriche, in denen die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg stillstand. Altbauten, die vor sich hin rotteten, kaputte Straßen, auf denen weder Trabant noch Wartburg unterwegs waren – und zwischendurch die zur Platte gewordene Moderne des sozialistischen Wohnungsbaus. Es wird ein ewiges Rätsel bleiben, wie in diesem grauen Land ausgerechnet der Schlager „Du hast den Farbfilm vergessen“ Kult werden konnte.

Zum Mittagessen gab es Rotkohl, Kartoffeln und Schweinefleisch. Unsere erste Absteige war ein Hüttendorf irgendwo in der Nähe von Leipzig, das in die Jahre gekommen war. Eine so junge wie charmante Reiseleiterin stand uns zur Seite. Die überzeugte Anhängerin des Sozialismus tauscht unsere deutsche Mark gegen die bunten Ostscheine: die „Gorch Fock“ gegen Clara Zetkin, einen Heiermann gegen den Anführer des deutschen Bauernkrieges, Thomas Müntzer. Am Ende verjubelten wir das Geld, der Verzweiflung nahe, in Klaviernoten, Flaggen, politisch überarbeitete Literaturklassiker und Alkohol. Anfangen konnten wir wenig mit dem Geld. In dem Dorf, in das wir am Abend gingen, fanden wir keine Kneipe und strandeten in der Gartenlaube eines Einheimischen. Dieser hatte seinem Selbstgebrannten so eifrig zugesprochen, dass er uns immer wieder ungläubig fragte, ob wir wirklich aus dem Westen seien. Aus Jux hatten wir uns einen Dialekt zugelegt, die eine seltsame Mischung aus Norddeutsch, Berlinerisch und Sächsisch war. Auf unseren Gastgeber wirkten wir so exotisch wie Außerirdische. Frank und frei erzählte er, wie „beschissen“ der Sozialismus sei und das längst keiner mehr an dessen Verlockungen glaube, er schimpfte auf die Funktionäre und ließ die Flasche kreisen. Wir hielten ihn für betrunken.

Am nächsten Morgen wunderten wir uns, als wir schlaftrunken aus den Fenstern blinzelten: Dort marschierten Grundschüler in Reih’ und Glied zum Morgenappell mit anschließendem Frühstück. Jeder von uns, der sein Rebellentum kultivierte, war etwas peinlich berührt. Es wirkte wie Sozialismus à la Castro, aber ohne Sonne und Cuba Libre. Erst recht, als wir Reisenden aus dem Westen fast eine Staatskrise ausgelöst hatten. In einer nächtlichen Spaßaktion hatten wir den Generalsekretär des Zentralkomitees der SED auf ungeheuerliche Weise verunglimpft: Honeckers Konterfei im Speisesaal hing am nächsten Tag falsch herum. Eine tobende Lehrerin fragte ihre Schüler, wer für diese Missetat verantwortlich war; weil wir die Ausweisung aus der spaßbefreiten Republik fürchteten, schwiegen wir betreten. Zum Mittag gab es Schweinefleisch, Rotkohl und Kartoffeln als Sättigungsbeilage.

Es folgte ein buntes Touristenprogramm mit Völkerschlachtdenkmal und Stadtbesichtigung. Erfolglos versuchten wir in Leipzig, unsere Ostmark in Bier oder zumindest Club Cola anzulegen: Zwar stießen wir auf mehrere gähnend leere Restaurants und Gaststätten, darunter Auerbachs Keller, doch überall wurde aus uns unerfindlichen Gründen „heute nicht bedient“ oder eine imaginäre „geschlossene Gesellschaft“ bewirtet. Kapitalismus fanden wir weiterhin blöd, nur beim Durst hatte er plötzlich auch sein Gutes.

Der nächste Abstecher führte uns in die Lutherstadt. Nach einem Mittagessen in einem Gasthaus mit Plumpsklo über den Hof, es gab Rotkohl, kamen wir in Wittenberg an. Dummerweise verlor ich auf einer der Landstraßen eine winzige Schraube, die das Glas in meiner Brillenfassung hielt. Ich bat naiverweise die Reiseleiterin, wir sollten doch in Wittenberg bei einem Optiker vorbeischauen. Offiziell ließ das eng getaktete Programm eine Reparatur nicht zu, in Wahrheit war kein Optiker aufzutreiben. Immerhin wusste die Reiseleiterin Rat: Wir flickten die Brille mit einer verbogenen Büroklammer. Und reisten weiter in ein Jugendgästehaus in der Nähe von Potsdam.

Dort sollten wir endlich auf Gleichaltrige treffen, in einem FDJ-Jugendheim inmitten einer trostlosen Plattenbausiedlung. Die einzige Sonne weit und breit schien von einem blauen Banner. Die Jugendlichen trugen nicht nur blaue Hemden, sondern auch Vollbärte und sahen insgesamt ziemlich alt und berufsjugendlich aus. Der freundliche Austausch wurde rasch frostig, weil die Gastgeber uns unverzüglich das lange Sündenregister des Westens vorbeteten. Irgendwann wurde es sogar mir zu bunt – spätestens als wir auch noch für den deutschen Faschismus verantwortlich gemacht wurden. Mein Konter, das sei ja wohl ein gesamtdeutsches Erbe, wiesen die Blauhemden brüsk zurück. Sie seien schließlich der Staat der Antifaschisten, in dem sich nach der Stunde null die Gegner der Nazis zusammengefunden hätten. Während es bei den Jungs rasch lauter wurde, wagten sich die Mädchen auch an private Themen heran. Ein unglaublicher Fauxpas, den eine FDJ-Suffragette mit einem patzigen Satz beendete: „Hier wird über Politik gesprochen.“ Zu essen gab es übrigens Rotkohl.

Ein Pflichtbesuch für die Halbfaschisten aus dem Westen war das Konzentrationslager Sachsenhausen im Norden von Berlin, das der SED-Staat schon in den 60ern zur nationalen Mahn- und Gedenkstätte ausgebaut hatte. Vor uns gingen Grundschüler in eine Ausstellung, die schwer zu ertragen war. Wir sahen das zynische „Arbeit macht frei“ am Tor, schauderten in den Baracken und schämten uns bei der Filmvorführung, Deutsche zu sein. So hautnah hatten wir das Leid der Inhaftierten und den Terror der SS nie zuvor erlebt. Was wir allerdings nicht erfuhren: Nicht einmal vier Monate nach der Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen richteten die Russen an Ort und Stelle ihr Speziallager 7 ein – außer Krematorium und Vernichtungsanlage füllten sich alle Baracken aufs Neue mit politischen Gefangenen. Ende 1945 war das Lager mit 12.000 Inhaftierten wieder voll belegt.

Es dauerte, bis wir in unser touristisches Fahrwasser zurückfanden. Nach einem Mittagessen, Reis mit Schweinefleisch, ging es weiter nach Potsdam und Berlin, in die „Hauptstadt der DDR“. Im Vergleich zu Leipzig wirkte Potsdam schon damals mit seiner Fußgängerzone und leidlich gefüllten Läden, dem Schloss Sanssouci samt Park etwas wohlhabender. Geradezu überrascht waren wir von Berlin: Der „Palazzo Prozzo“ machte auf uns Pubertierende aus der Provinz durchaus Eindruck – Erichs Lampenladen, nach Schätzungen eine Milliarde Ostmark teuer, traf den Geschmack der Zeit: ein Kulturhaus mit Sälen, Ausstellungen, Jugendtreff und Bowlingbahn unter einem Dach mit dem Parlament. Dummerweise hätte ein Souvenir für meine Schwester – ein Zuckertütchen mit Aufdruck „Palast der Republik“ – mir fast Riesenärger wegen Diebstahls eingebracht. Der Ober war drauf und dran, die Volkspolizei zu rufen. Am Alexanderplatz fanden wir danach ein Kaufhaus, in dem wir einige Flaschen Sekt für den Abschlussabend kaufen konnten.

Der sollte es in sich haben. Unsere Reiseleiterin war bester Stimmung und rückte mit jedem Schluck vom Vaterland ab. Die glänzende Verkäuferin des Sozialismus kratzte innerhalb weniger Minuten den Lack ihres Landes ab und klang nun eher wie eine Schwester im Geiste des Republikflüchtlings. Sie meckerte über Bonzen im Bauernstaat, das ewige Anstehen im Alltag und die Angst, seine wirkliche Meinung zu sagen. An den Sozialismus würden eh nur noch einige Funktionäre glauben. Wie gern würde sie einmal in den Westen reisen! Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie sich im Gepäckfach des Busses außer Landes hätte schmuggeln lassen wollen.

Sie hat es nicht getan, Gott sei Dank. Schon auf der Transitstrecke wurde der Bus hinter einer Baustelle gestoppt, wegen einer angeblichen Geschwindigkeitsübertretung. Die Strafe musste sofort in Westmark bezahlt werden. Die Ausreise wurde zum Spießrutenlauf: Einer der Jugendlichen mit großer Klappe wollte offenbar die Gerüchte von Richtmikrofonen an der innerdeutschen Grenze überprüfen. Seine lauten Scherze ernteten fröhliche Lacher, bis die Grenzpolizisten in den Bus zur Personenkontrolle kamen – und zielgerichtet den Spaßvogel aussteigen ließen. Die genaue Untersuchung verzögerte die Abfahrt um eine knappe Stunde. Und in jeder Minute freute man sich mehr auf die Heimreise. Wir lernten etwas schätzen, das wir bis dahin für eine Selbstverständlichkeit hielten: Freiheit.

Den vierten Teil unserer Serie lesen Sie am Donnerstag, dem 18. September