Der Dalai Lama war vier Tage in Hamburg, um die Welt zu erklären und Antworten auf die Fragen zu geben, die Menschen bewegen. Tausende wollten ihn hören, sehen, anfassen oder fotografieren. Das war oft einfach schön. Doch das Leben bleibt schwierig

Es war um kurz nach sieben Uhr, als der Dalai Lama am Dienstag die Bühne im Congress Center Hamburg (CCH) betrat. Vor sich einen riesigen Saal mit kaum zu zählenden Stuhlreihen, die normalerweise immer gut besetzt sind, wenn Seine Heiligkeit auftaucht. Dienstagmorgen waren sie leer, weil der Dalai Lama nur mit ein paar Vertrauten den letzten großen Auftritt, eine buddhistische Zeremonie, vorbereiten wollte. Es war ein besonderer, einer der wenigen stillen Momente für einen Mann, den in den vergangenen vier Tagen Tausende sehen, fotografieren, anfassen und vor allem reden hören wollten. Wodurch kann mein Leben besser werden? Wie lassen sich die Kriege in der Ukraine, im Irak und anderswo auf der Welt beenden? Was läuft falsch zwischen den Religionen, was zwischen den Menschen? Und sollte ich nicht selbst auch am besten Buddhist werden?

Es gibt kaum eine Frage, auf die man dem 79-Jährigen keine Antwort zutraut, und deshalb werden ihm auch die seltsamsten gestellt. „Eure Heiligkeit, wie kann Musik die Welt heilen?“ „Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht“, sagt der Dalai Lama dann, der es gewohnt ist, dass die Menschen im Westen schnelle und ultimative Rezepte wollen, „am besten das eine Mittel, das man aus dem Hut zaubern kann und das alle unsere Probleme löst“. Schade nur: „Das gibt es nicht“, sagt der Dalai Lama, um sich wenig später einen kalten Waschlappen auf den Kopf zu legen, „weil der am besten hilft, wenn es zu warm wird“. So sitzt einer der wichtigsten Religionsführer unserer Zeit mit einem Stück Frottee auf dem kahlen Kopf im CCH, zieht die Schuhe aus, kreuzt die Beine und lacht. Nicht wenige der bis zu 7000 Gäste pro Tag sind nur deswegen gekommen, wegen dieses Lachens, das den kleinen Jungen verrät, der immer noch im großen Gelehrten steckt. Es hat Pläne gegeben, dass der Dalai Lama während seines Hamburg-Besuchs auch einen Abstecher ins Miniatur Wunderland macht. Am Ende war die Zeit dafür nicht da. Gefallen hätte es ihm bestimmt.

Die Mischung aus Klugheit, Besonnenheit und Unbekümmertheit ist es, die die Menschen an dem Mönch fasziniert, der selbst von sich sagt, auch nur „einer von sieben Milliarden zu sein“, nicht besser oder schlechter, aber auf jeden Fall ausgeglichener. Wonach andere lange und viele vergeblich suchen, er hat ihn gefunden: den „Frieden des Geistes“. „Hauptfaktor meiner persönlichen Fitness ist meine mentale Ausgeglichenheit“, sagt der Dalai Lama, der morgens um 3 Uhr aufsteht, um 5.30 Uhr und mittags üppig isst, dann aber kaum noch etwas. „Ich kann Ihnen nur empfehlen, abends nichts mehr zu essen, das ist gesund“, ruft er in den Saal, um dann unter frechem Kichern die Geschichte von einer holländischen Politikerin zu erzählen, der er diesen Rat auch gegeben hätte, weil „sie einfach viel zu dick gewesen ist“.

Wer dem Dalai Lama zuhört, und das kann man stundenlang, erlebt eine einmalige Mischung aus solchen Anekdoten („Wovor ich Angst habe? Mit dem Flugzeug über dem Meer abzustürzen und von Haien aufgefressen zu werden“), bemerkenswerten Sätzen („Wer Konflikte durch Gewalt löst, schafft die Voraussetzungen für neue Gewalt“), viel Wärme und Ehrlichkeit. Die kann auch wehtun, zumindest dann, wenn man gekommen ist, um einfache Lösungen für die eigenen Probleme oder jene der Welt zu erhalten. Denn die gibt der Dalai Lama nicht, und wer gehofft hatte, mal schnell einen Kompaktkursus Buddhismus machen zu können, wird enttäuscht. Die Lehren des Buddhas, die uns so nah scheinen, weil sein Abbild heute in vielen Restaurants, in Wohnzimmern, ja selbst in Trainingsgebäuden von Fußball-Bundesligavereinen steht, seien am Ende doch nichts für uns.

Der Dalai Lama sagt es nicht ganz so direkt, aber fast: „Ich würde von einem Wechsel der Religion abraten, der ist für die meisten viel zu schwierig“, heißt es bei ihm. Und: „Bleibt doch in der Tradition eures Landes verhaftet. Zu euch Deutschen passt das Christentum, zu uns Tibetern der Buddhismus. Religion muss man ernst nehmen, die kann man nicht wie eine Mode wechseln.“ Deshalb werde er auch niemandem Buddhismus lehren, der nicht aufrichtig darum gebeten habe. Und der wiederum sollte die Lehren nur akzeptieren, wenn er sie selbst nachvollziehen könne.

So hat es schon der Buddha gewollt, so will es auch der Mann, der als kleines Kind aus seiner Familie geholt wurde, weil man in ihm die Reinkarnation des Dalai Lama erkannt hatte. „Das ist nicht euer Geschäft“, sagt er im CCH zu tieferen Fragen über das Wesen des Buddhismus, was übersetzt wohl so viel heißen soll, wie: Das versteht ihr nicht. Und wie zum Beweis fragt eine Dame aus dem Publikum: „Herr Dalai Lama, oder wie soll ich Sie nennen? Vor der Tür demonstrieren ein paar Hundert Menschen gegen Sie. Können Sie mir das einmal bitte erklären?“ Nein, sagt der Dalai Lama, das könne er nicht mal eben, weil es um einen 400 Jahre alten Streit unter Buddhisten gehe, und um den beurteilen zu können... siehe oben.

In solchen Momenten und bei den Zeremonien, an denen nur Buddhisten teilnehmen, merkt man, dass der freundliche, fröhliche Mönch auch eine andere Seite hat. Nein, keine unfreundliche, unfröhliche, aber er achtet genau darauf, wo seine Idee der säkularen Ethik endet und wo der Buddhismus beginnt. Das eine, zu dessen Grundwerten Gewaltlosigkeit, Toleranz und Vergebung gehören, ist etwas für alle, das andere eben nicht. „Es wird sowieso nie die eine Religion, die eine Wahrheit für alle, geben“, sagt er. „Man wird nie mit einer Religion sieben Milliarden Menschen erreichen können. Deshalb muss man andere Wege finden, wie wir friedlich zusammenleben können.“ Man müsse akzeptieren, dass es religiöse Traditionen gebe, und, ja, man müsse auch akzeptieren, dass es eine Milliarde Menschen gebe, die mit Religion überhaupt nichts anfangen könnten. „Manchmal“, sagt er, „habe ich fast das Gefühl, ich müsste eine Lanze für diese Ungläubigen brechen.“

Der Dalai Lama ist das Gegenteil von einem Missionierer, vielleicht lockt er auch deshalb überall auf der Welt so viele Menschen an. Er ist ein Erklärer, zu dessen Lieblingswörtern „difficult“, schwierig, gehört, weil es keine einfache Lösungen gibt, auch wenn es sich manchmal so anhört: „Wir alle wissen doch, was gut und was schlecht ist. Aber leider handeln wir nicht immer danach“, sagt er und fragt später: „Warum liefert ein Land wie Deutschland Waffen in die Welt, obwohl es weiß, dass damit Menschen getötet werden?“

Die Konflikte, die derzeit in verschiedenen Teilen der Erde toben, waren eines der Hauptthemen in Hamburg, in großen wie in kleinen Runden. „Die aktuellen Probleme können wir nicht lösen, wir können nur dafür Sorge tragen, dass sie sich in Zukunft nicht wiederholen“, sagt der Dalai Lama. Der Grundstein etwa für den Krieg in der Ukraine sei im 20.Jahrhundert gelegt worden und belege das Kausalitätsprinzip, auf dem der Buddhismus unter anderem beruht: „Wir müssen den Zusammenhang zwischen Gegenwart und Zukunft verstehen. Die jetzige Politik bestimmt die Realität der Zukunft.“ Und: „Frieden fällt nicht vom Himmel, wir müssen selbst etwas dafür tun. Letztlich ist es eine Frage unserer persönlichen Verantwortung.“

Der Dalai Lama wiederholt Sätze wie diesen mantraartig, nicht nur an den vergangenen Tagen in Hamburg. So wenig, wie er den Menschen ein Allheilmittel an die Hand gibt, geben kann, so wenig entlässt er jeden Einzelnen aus seiner Pflicht. „Wenn wir die Welt besser machen wollen, muss jeder Einzelne besser werden. Und dafür müssen wir in anderen, selbst in unseren Feinden, zunächst den Menschen sehen, der genauso ist wie wir.“ Oder: „Unser Verhalten hat auch eine globale Dimension. Globalisierung heißt, dass wir immer stärker voneinander abhängen, dass das Schicksal der anderen immer mehr zu unserem wird.“ Und schließlich: „Im eigenen Interesse muss man deshalb alles dafür tun, dass es anderen Menschen gut geht. Je mehr Freunde man hat, umso besser.“ Die Europäer hätten da mit ihrer Union viel richtig gemacht, und er bewundere sie dafür: „Ihr habt gezeigt, dass aus Feinden Freunde werden können. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Zukunft ändern kann, auch wenn die Vergangenheit bleibt.“ Aber, nicht vergessen: „Es wird so lange Meinungsverschiedenheiten geben, wie es Menschen gibt. Die Frage ist aber, wie wir sie lösen.“

Sein Vorschlag: Mit einem Jahrhundert des Dialogs, in dem die westliche Welt und der Islam miteinander reden, statt aufeinanderzuknallen, in dem es keine Gewinner und keine Verlierer, sondern Gesprächsbereitschaft und Vertrauen gibt. Vertrauen schaffen ohne Waffen. Das ginge zum Beispiel, wenn man das Nato-Hauptquartier nach Moskau verlegen würde: Dann würden die Russen wirklich merken, dass es der Westen ernst meint mit der Freundschaft. Wie gesagt: „Things are not easy, they are difficult.“

Noch Fragen? Ja, viele, profane und hoffentlich weniger profane. Wie er es findet, dass junge Menschen so viel über Smartphones kommunizieren? „Sie sollten nicht Sklaven der Geräte werden und nicht verlernen, selbst zu denken. Viel zu denken, lange zu denken.“ Kann der nächste Dalai Lama eine Frau sein? „Wenn es die Umstände erfordern, warum nicht? Aber sie sollte attraktiv sein“ (lacht). Was bringt Meditation? „Meditation ist kein Allheilmittel. Wenn der Meditierende voller negativer Emotionen bleibt, hat sie keinen Nutzen.“ Was hilft gegen Sorgen und Ängste? „Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass er sich ständig Gedanken um seine Zukunft macht, ohne zu verstehen, dass er die Grundlagen dafür in der Gegenwart legt. Es gibt zwei Arten von Ängsten: Die einen sind berechtigt, die anderen existieren nur in unserem Kopf. Das sind 90 Prozent unserer Ängste, und die müssen wir einfach nur analysieren, um sie loszuwerden.“ Wie gefährlich ist der Islam? „Der Dschihad ist in Wahrheit kein Kampf gegen äußere Feinde, sondern gegen innere Emotionen.“

„Any questions?“

Wenn der Dalai Lama so fragt, geht das Gespräch mit ihm dem Ende entgegen. Im großen Saal des CCH traut sich ein kleiner Junge ans Mikrofon. Was er denn machen solle, wenn er in der Schule mit Worten oder Fäusten angegriffen werde, will er wissen. „Wenn der andere nicht stärker ist als du, wehre dich“, sagt der Dalai Lama. „Sonst laufe weg, so schnell du kannst.“ Man kann das als Gleichnis nehmen. Oder nur als einen dieser kleinen Witze, die für den Mann auf der Bühne zumindest dann typisch sind, wenn er nicht nur zu Buddhisten spricht.

Wann er denn wieder nach Hamburg kommen werde, will die Gruppe von Journalisten wissen, die er zum Abschluss seines viertägigen Besuchs empfangen hat: „Wann immer man mich einlädt. Ich bin sehr gern in Deutschland.“

Vielleicht klappt es dann ja auch mit dem Miniatur Wunderland.