Jon Klassen stellt mit „Wo ist mein Hut?“ Lebensfragen

Die ganze Bandbreite menschlicher Empfindung liegt in dieser schlichten Frage. Man kann sie wütend oder entsetzt intonieren, resigniert, lockend oder seufzend: „Wo ist mein Hut?“

So heißt das Buch, mit dem der junge Kanadier Jon Klassen, von Haus aus Illustrator, sein Debüt als Autor gegeben hat, das in den USA raketenartig auf den Bestsellerlisten nach oben geschnellt ist. Die deutsche Fassung ist im NordSüd Verlag erschienen, sie wurde im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Mit allem Recht.

Klassen bringt es fertig, aus der normalsten aller Lebenssituationen Funken zu schlagen: Der Bär vermisst seinen Hut, und keiner hat ihn gesehen, der Frosch nicht, die Schildkröte nicht, das Kaninchen nicht – wobei, hatte das Kaninchen nicht eben noch etwas Rotes, Dreieckiges auf dem Kopf? Dass ihm das schlecht bekommen wird, müssen die jungen Betrachter (ab sechs Jahren) sich selbst denken. Zu sehen bekommen sie nämlich nur einen Bären, der entschlossen kehrtmacht. Danach ist der Hut wieder da, aber das Kaninchen fehlt. Und auf die Fragen nach seinem Verbleib leugnet der Bär genauso ungerührt wie aussichtslos, das Tierchen gesehen zu haben, wie zuvor das Kaninchen die Frage nach dem Hut.

Das eigentliche Drama ereignet sich also zwischen oder gar hinter den Zeilen. Die reduzierten Bilder und die paar Dialogzeilen zu interpretieren und gedanklich zu ergänzen, das ist für Kinder eine richtige Knobelübung, freilich ohne dass sie es merken. Denn das Buch hat einen solchen Charme, eine solche Leichtigkeit und hintergründigen Witz, dass man nichts so sehr bedauert wie die Tatsache, dass es nach 20 Seiten schon wieder zu Ende ist. In ihnen kann sich jeder wiedererkennen. Wer hätte sich nicht schon einmal mit einer hanebüchenen Lüge aus einer schon verlorenen Situation zu winden versucht?

Dieses menschlich-allzu menschliche Verhalten behandelt Klassen mit einer empirischen Gelassenheit, der jeder Hauch Moralinsäure fehlt. Und wie immer, wenn einen keiner zwingt, identifiziert man sich umso bereitwilliger mit dem Bären und lacht umso lauter darüber, wie er, als er sich ertappt fühlt, die Flucht nach vorn antritt und den Fragenden mit ungehaltenen Gegenfragen überflutet. Die lebensphilosophische Frage „Was ist richtig?“ schwebt über allem. Und zwar so, dass man nach ihr greifen, sie betrachten und für sich beantworten kann, ohne von ihr erschlagen zu werden. So geht anspruchsvolle Kinderliteratur.

Klassen braucht nur wenige, aber präzise Mittel für seine hochverdichtete Geschichte. Jeder der Protagonisten sagt nicht mehr als einen, vielleicht drei Sätze, jeder hat dafür eine eigene Schriftfarbe in einem Pastellton, der zu seiner Gestalt passt. Die Farbigkeit der Bilder ist stark zurückgenommen. Alle Tiere sind in Naturtönen gehalten, weshalb das Rot des vermissten Huts umso mehr hervortritt.

Klassen verwendet gern Tinte, Gouache oder Acrylfarben für seine Bilder, anschließend bearbeitet er sie digital. Dass er auch sonst keine Berührungsängste gegenüber anderen Medien hat, zeigt Klassen bei seinem Auftritt im Hamburger Kinderbuchhaus. Da liest er nämlich nicht nur vor, er zeigt auch Kurzfilme über das „Hut“-Thema und zeichnet sogar live für die Kinder.

Jon Klassen 16.9., 11 Uhr, Hamburger Kinderbuchhaus, nur für Schulklassen, ab 6 Jahren. Die Karten kosten 4 € pro Person.