Bestsellerautor Bernhard Schlink erzählt in seinem neuen Roman „Die Frau auf der Treppe“ von der Liebe, dem Leben und den Verlusten

Es ist auf jeden Fall eine Beruhigung, wenn einer ein Feld hat, auf dem er sich sicher fühlt. Auf dem er agieren kann wie ein Platzhirsch. Von dem aus er die Welt ordnet, ohne es je ganz verlassen zu müssen. Ein solches Feld ist die Jurisprudenz, ein Ort des Rationalen. Und doch auch einer, an dem Emotionen eine Rolle spielen.

Bernhard Schlink ist Jurist, er lehrte an etlichen Universitäten. Unlängst ist er 70 Jahre alt geworden, und anlässlich des glatten Geburtstags konnte Schlink nicht nur auf viele Jahrzehnte in der Sphäre des Rechts zurückblicken, sondern auch auf mittlerweile ein Vierteljahrhundert der Schriftstellerei. Aber in dieser verließ er das gewohnte Terrain selten: Viele von Schlinks Helden sind Anwälte, und die Fragen, die er literarisch zu behandeln sucht, kommen oft im juristischen Gewand daher. Natürlich in seinen Krimis, die „Selbs Justiz“, „Selbs Mord“ und „Selbs Betrug“ heißen und dem Privatermittler Gerhard Selb im Kampf gegen das Verbrechen begleiten. Aber auch in Schlinks Weltbestseller „Der Vorleser" spielt das Recht eine große Rolle.

Die Hauptfigur Michael Berg ist Jurist, in dem Jahrzehnte umspannenden Drama-Plot um die deutsche Vergangenheit tritt er zunächst als Student, später als Rechtshistoriker auf. Er ist neben der Figur der Nazi-Täterin Hanna Schmitz Schlinks unvergesslichste literarische Erfindung, ja, er gehört gewissermaßen zur Weltliteratur. Denn was war das für ein gewaltiger Erfolg, den Schlink mit seinem später verfilmten „Vorleser“ hatte! Das Buch wurde in 39 Sprachen übersetzt und stand, nachdem Schlink in Oprah Winfreys Talkshow zu Gast war, auf dem ersten Platz der Bestsellerliste der „New York Times“. Deutschsprachige Literatur ist kein Exportschlager, eigentlich fast nie gewesen; außer Schlink fallen einem nur Kehlmann und Süßkind ein, die in jüngerer Vergangenheit international reüssierten.

Schlinks dichterischer Coup war es, eine außergewöhnliche Liebesgeschichte mit dem deutschen Verhängnis zu verbinden – in einer handwerklich kühnen Konstruktion. Denn das Umschlagen von Romanze in Court-Room-Drama geschieht überfallartig: Die Liebe der Frau ist mit einem Male das Begehren einer KZ-Wärterin, auch wenn bei der Entdeckung der wahren Identität bereits Jahre vergangen sind. Der „Vorleser“ ist einer der pointiertesten Romane über die deutsche Schuld.

Er ist nicht eindeutig in eine Richtung interpretierbar, auch das macht den Roman zu einer gewinnbringenden Lektüre, denn über ein Schuldanerkenntnis der Hanna Schmitz, die als ältere Frau ins Gefängnis muss, wird direkt nichts bekannt: Sie äußert sich nicht explizit.

Auf gewisse Weise ist sie, die nicht lesen und schreiben kann, eine moralische Analphabetin – und damit durchaus eine Symbolfigur der Deutschen in und nach dem Krieg.

Ein Hit wie „Der Vorleser“ gelingt den meisten Schriftstellern nie; mit dem weltweiten Publikumserfolg war Schlink als Autor durchgesetzt. Die politische Geschichte als Infiltrator deutscher Lebensläufe interessierte ihn auch in Romanen wie dem 2008 erschienenen „Das Wochenende“, in dem er die Frage nach der Resozialisierung von RAF-Tätern nach ihrer Haftentlassung stellte. Schlinks neuer Roman nun, der den schönen Titel „Die Frau auf der Treppe“ trägt und den er auf dem Harbour Front Festival vorstellt, ist in mancherlei Hinsicht wie ein Best-of seines Gesamtwerks.

Es geht wieder um einen Juristen, unter anderem, um einen Ich-Erzähler, den der Leser in seinen jungen Jahren erstmals trifft. Der Roman, im typisch schlank-schnörkellosen Schlink-Duktus geschrieben, setzt zu Beginn der 70er-Jahre ein. Der gerade frisch in eine Kanzlei eingetretene Anwalt verliebt sich in Irene, eine Frau, die in einem bizarren Streit eine entscheidende Rolle spielt. Sie ist auf einem Aktbild zu sehen, das der Maler Karl Schwind für den stinkreichen Industriellen Gundlach gemalt hat.

Schwind hat Gundlach gleichzeitig auch die Frau ausgespannt, ebenjene Irene – wie durch Geisterhand tauchen auf dem Bild immer wieder schadhafte Stellen auf. Erbost über diese Zerstörung, fordert der Künstler sein Werk zurück, ein Wunsch, dem Gundlach nicht nachkommen will. Dann wird über den jungen Anwalt, der zunächst unscheinbar und blass zwischen den Streithanseln steht, ein unmoralisches Angebot lanciert: Frau gegen Bild. Gundlach bekommt die Gattin zurück, Schwind das Gemälde. Doch ehe man sich als Leser auf ein symbolkräftiges Kammerspiel über den Widerstreit von Kunst und Leben eingelassen hat, ist man zumindest kurzzeitig mittendrin in einem Thriller.

Denn Irene bindet den liebestrunkenen Erzähler in eine filmreife Fluchtszene ein, die sich während des „Austauschs“ zuträgt – willig rettet der naive junge Mann das Prachtweib aus den Fängen der auf je eigene Weise Machismo-geprägten Typen.

Der Anwalt weiß gar nicht, wie ihm geschieht, als die Hormone mit einem Male verrückt spielen: „Das gab es also – ein Glück, von dem ich mir nicht hatte träumen lassen, für das es nur diese eine Frau brauchte, ihre Nähe, ihre Stimme, ihre Nacktheit.“

In seinem Ausgreifen in die Zeit vor der grassierenden Pornografisierung schildert Schlink den Vorgang des Verliebens auf eine von heute aus gesehen kaum noch glaubliche Weise – um Männer verrückt zu machen, reicht es, seine Kleidung für ein Duchamp-mäßiges Kunstwerk abzulegen. So leicht war das also einmal.

Schlink greift in seinem neunten Roman nicht nur auf das Motiv der Beziehung zwischen dem unerfahrenen Erzähler und der reifen Frau zurück. Er erzählt auch wieder auf zwei Zeitebenen und gibt der weiblichen Protagonistin eine zwielichtige Vita. Der Hauptteil der Handlung spielt im Australien der Gegenwart. Alle Figuren sind mehr oder minder in Würde gealtert, als das ehemals umstrittene Gemälde wieder auftaucht: Irene hatte das Bildnis ihrer Nacktheit bei der Flucht mitgenommen, den tapferen Erzähler freilich zurückgelassen, der hätte bei ihrem Guerilla-Leben ja nur gestört. Zeitweise war Irene nämlich mit RAF-Fahndungsplakaten gesucht worden, ehe sie in der DDR Unterschlupf fand und von da irgendwann nach Australien zog: pralle deutsche Zeitgeschichte.

All das erfährt der Leser beim Wiederaufeinandertreffen der so unterschiedlichen Figuren, die Schlink durchaus ein bisschen penetrant als von komplett unterschiedlichen Prinzipien geleitet darstellt. Die Künstlernatur, die Weltverbesserin, der Geldmensch, der Paragrafenkenner – das sind vier Arten, die Welt zu erfassen.

Das Bild, das sie zunächst im Hader zusammenbrachte, ist jetzt erst Lockmittel, dann wieder Zankapfel – und irgendwann unwichtig. Man kann Schlinks dichtende Courage kritisch sehen: Immerhin wird in dem schmalen, keine 250 Seiten langen Text vor allem auch eine Liebesgeschichte erzählt. Daneben noch eine vom Sterben und eine vom Innehalten im sogenannten Herbst des Lebens angesichts mancher biografischen Verhärtungen. Aber man kann ihm nicht vorwerfen, er käme nicht schnell zum Punkt.

In einem der vielen bedeutungsschweren Dialoge wird schon im Präludium des Romans auf schöne Weise der Unterschied zwischen den Lebensaltern erklärt: „Zum Jungsein gehört das Gefühl, alles könne wieder gut werden, alles, was schiefgelaufen, was wir versäumt, was wir verbrochen haben. Wenn wir das Gefühl nicht haben, wenn Ereignisse und Erfahrungen unwiederbringlich sind, sind wir alt.“

Wie im „Vorleser“ ist die weibliche Hauptfigur am Ende des Romans eine im Verschwinden begriffene Person. Die Lehre von den letzten Dingen vor exotischer Kulisse in einer abgelegenen australischen Bucht: Das ist wahrscheinlich der gelungenste Teil in diesem Buch. Dass die Brüder Grimm dem Erzähler am Ende die Weisheit „Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ soufflieren, weist nicht unbedingt in die Richtung, in der man „Die Frau auf der Treppe“ deuten kann. Märchenhaft ist hier nichts.

Es geht wie meist um die Verluste, die sich im Verlaufe eines Lebens ansammeln. Dagegen schützt auch die Sphäre des Rechts nicht: Ein gelungenes Leben kann man so wenig einklagen wie ein Bild. Und das Glück in der Liebe auch nicht.

Bernhard Schlink 19.9., 20 Uhr, Laeiszhalle (Kleiner Saal). Tickets ab 15 € unter T. 30309898