Der jüngste Streich von Xavier Dolan ist der Thriller „Sag nicht, wer du bist!“

Im Kino dient ein Sterbefall oft nur als Vorwand, um eine Handlung in Gang zu bringen. Wer die Person war, mit deren Tod alles seinen Anfang nimmt, das verlieren die meisten Filme danach aus dem Auge. „Sag nicht, wer du bist!“ ist da kaum anders. Über Guillaume, der 25-jährig bei einem Autounfall ums Leben kam, erfährt man so gut wie nichts, trotzdem prägt er den Film bis zur letzten Minute – als schmerzende Leerstelle, mit der drei sehr unterschiedliche Personen auf ihre eigene Weise zurechtkommen müssen.

Im Mittelpunkt steht Tom (gespielt von Regisseur Xavier Dolan selbst), Guillaumes Freund und Liebhaber, der zur Beerdigung aufs Land fährt. Noch bevor er einer Menschenseele begegnet, wird deutlich, dass sich der Städter mit seinem blond gefärbten Haarschopf, schwarzer Lederjacke und dem Rollkoffer weit außerhalb seiner „Komfortzone“ befindet. Sein Navi versagt, das Handy hat kaum Empfang, und das „Farmhaus“, das er am Ende zwischen hässlichen Getreidesilos und Viehbaracken findet, scheint wie von allen Geistern verlassen. Fluchend verschafft er sich Eintritt, nickt am Küchentisch ein und wird später aufgeschreckt von Guillaumes Mutter Agathe (Lise Roy).

Es braucht nur wenige Sätze, bis Tom klar wird, dass die Mutter nicht weiß, dass ihr Sohn schwul war. Als wäre das alles nicht schon ungemütlich genug, tritt wenig später Francis (Pierre-Yves Cardinal), Guillaumes Bruder, auf, und droht Tom mit unmissverständlicher körperlicher Präsenz, Agathes Illusionen über die Sexualität ihres Sohnes nicht zu zerstören.

Sie bilden ein ungleiches und unheimliches Trio: die Mutter, die in ihrer Trauer an allem festhält, was man ihr vom Verstorbenen erzählt, und doch weiß, dass das nur die halbe Wahrheit sein kann. Tom, der ihr nicht wehtun möchte, und seinen Freund dabei dennoch verrät. Und Francis – die faszinierendste Gestalt in dieser schrägen Konstellation –, der es sich offenbar zur Lebensaufgabe gemacht hat, das Geheimnis seines Bruders zu wahren. Vom Ausmaß der Gewalt, die er dafür einzusetzen bereit war, wird Tom erst gegen Ende erfahren.

Xavier Dolan, vor fünf Jahren mit seinem Debüt „I Killed My Mother“ gefeiert, wagt sich hier aus der eigenen Komfortzone des hippen Städtertums hinaus. Respekt für seine Begabung fürs atmosphärische Erzählen mit all seinen Unklarheiten und Verwischungen.

++++- „Sag nicht, wer du bist!“ Kanada/Frankreich 2013, 106 Min., ab 16 J., R: Xavier Dolan, D: Xavier Dolan, Pierre-Ives Cardinal, Lise Roy, täglich im Koralle, Studio; www.sagnichtwerdubist-film.de