Zum Auftakt des Internationalen Sommerfestivals hinter den Kampnagelhallen gab es einiges zu erleben: Meisterliches von Rimini Protokoll und Kulinarisches von Chilly Gonzales im farbenfrohen Licht.

Hamburg. Im Licht vielfarbiger Glühbirnen verwandelt sich der Festival Avant-Garten hinter den Kampnagelhallen in einen Zauberwald, in dem die Kunst richtig nachwirken kann. Besucher erobern die Bastmatten und hölzernen Sitzgruppen rund um das von der Hamburger Künstlergruppe Baltic Raw rot bemalten, in massivem Sperrholz errichteten Kanalspielhaus „Flora“. Wie ein leuchtendes Fanal steht es da. Mahnmal der umstrittenen Schanzen-Immobilie, auch Symbol für die letzten, Spekulationen zum Opfer fallenden Freiräume in der Stadt.

Diese Art, mit popkulturellen Mitteln Kritik an den Verhältnissen zu äußern, ist typisch für András Siebold, im zweiten Jahr künstlerischer Leiter des Internationalen Sommerfestivals, das nun bis zum 24. August zu Entdeckungen in Tanz, Theater, Performance, Kunst, Film und Musik in allen Mischverhältnissen lädt. Der diesjährigen Festival-Ausgabe stellt Siebold den kernigen Satz „Off-Theater ist over“ voran, schärft schon am Eröffnungsabend sein Profil als Ermöglicher, als Netzwerker, der hippe, in ihren Metiers etablierte Künstler aus diversen Genres in schönster Komplizenschaft zusammenführt. Und setzt nebenbei politische Schwerpunkte.

Die innere Abkühlung, die ein Eiswagen im Innern der Kampnagelhallen verspricht, kann mancher gut brauchen, der sich am späten Mittwochnachmittag in die Kampnagel-Vorhalle begibt. „Situation Rooms“ – so der Titel eines ebenso ausgefeilten, wie verstörenden Multi-Player-Videostücks der dokumentarisch exakt arbeitenden Gruppe Rimini Protokoll. In Anlehnung an jenen Raum im Weißen Haus, von dem aus ein kleiner Kreis um Präsident Obama per Video der Exekution Osama Bin Ladens beiwohnte, betritt der Besucher ein Welt-Labyrinth der Finsternis. In einer mit viel Liebe zum Detail gefertigten Umgebung, mit Patina versehenen Dritte-Welt-Büros und verborgenen Machtzentralen wird der Besucher mit dem iPad in der Hand und Kopfhörer auf dem Ohr selbst zum Akteur in einer von entschlossenen Kämpfern, ohnmächtigen Ärzten, Journalisten und Rüstungsfabrikanten geprägten globalisierten Welt.

Die Texte der realen, von Rimini Protokoll aufgespürten Personen auf dem Ohr, sich durch die Türen des Labyrinthes arbeitend, wechselt der Besucher mehrfach die Identität. Wird vom angeschossenen Jeansverkäufer und Flüchtling in Syrien zum Rüstungsmanager auf einer Konferenz oder sieht sich als Direktor der Deutschen Bank dem Vorwurf einer Aktionärin ausgesetzt, weltweit geächtete Streubomben per Kredit mitzufinanzieren. Täter und Opfer schieben sich oft im Minutentakt aneinander vorbei.

In dieser Realitätsverschachtelung liegt die Kunst von Rimini Protokoll. Man ist beteiligt und bleibt doch durch die Technik auf Distanz. Viele der Spuren verlangen eine Vertiefung, für die man hier viel zu beschäftigt ist. So laviert man durch Gänge, hinter denen Menschen mit Schusswaffen lauern, schüttelt die Hände seiner Mitstreiter und legt ihnen gewichtige schusssichere Jacken um. Ein fesselndes, faszinierend unmittelbares Theatererlebnis, das jeder Teilnehmer individuell erlebt. Nicht nur als Machetenopfer auf der Liege im Lazarett des einzigen Chirurgen von Ärzte ohne Grenzen gibt es kein Entkommen aus Hitze und Desinfektionsgerüchen. „Irgendwo ist immer Krieg“, so die Erkenntnis eines Kriegsfotografen, deren bittere Wahrheit wir derzeit wieder erfahren.

Ist dieses meisterliche Theaterwunder, erst einmal grob verdaut, verspricht die große Eröffnungsproduktion leichtfüßigere Unterhaltung. Chilly Gonzales, grenzgängerische kanadische Rampensau an den Tasten, bringt gemeinsam mit seinem Landsmann, dem Filmemacher und Puppetmastaz-Musiker Adam Traynor „The Shadow“ nach dem Märchen von Hans Christian Andersen als Schattenspiel-Musical zur Uraufführung. Während Gonzales sich mit seinem vorzüglichen Hamburger Kaiser Quartett & Friends auf einem Rondell verschanzt und seine selbst komponierte, schwelgerische, bisweilen zuckrige, Hollywood-verliebte Kammermusik abliefert, bleibt das Spiel der Darsteller in Stummfilm-Manier auf der Bühne eigenartig gekünstelt. Wo die Faszination, der Stummfilmkunst im Kinohit „The Artist“ gekonnt wiederbelebt wurde, wirkt sie hier seltsam langatmig und überholt. Ein allzu kulinarischer Auftakt eines ausdrücklich als solches ausgewiesenen Avantgarde-Festivals.

Gonzales und Traynor erzählen die Geschichte des von Andersen 1847 verfassten Kunstmärchens über einen Gelehrten, der langsam von seinem in innerste Geheimnisse des Menschseins vorstoßenden Schatten verdrängt wird, erstaunlich märchenonkelig. Als sicher perfekt getimtes und schön instrumentiertes Bildertheater, das aber zu sehr dem Glauben an den eigenen Zauber erliegt. Die weiß geschminkten Gesichter der stumm agierenden Darsteller des koproduzierenden Schauspiel Köln erinnern an den ganz frühen Robert Wilson, ansonsten bleiben Melanie Kretschmann und Niklas Kohrt eher wenig Ausdrucksmöglichkeiten.

Die von dem französischen Schattenexperten Philippe Beau ersonnenen Schattenspielertricks vor und hinter großen Leinwänden bleiben simpel. Genauso wie die Tanzschritte Sabina Perrys. Da mögen die das 19. Jahrhundert zitierenden Anzüge (und obligatorisch farbigen Morgenröcke) des Hamburger Szeneschneiders Bent Angelo Jensen noch so elegant daherkommen. Manchmal befördern auch die besten, talentiertesten Kunst-Komplizen zwar ein wenig historisierenden Theatercharme, aber eben nur die halbe Magie. Aber auch das gehört dazu, wenn man längerfristig mit Künstlern arbeitet und sich mutig auf das Wagnis einlässt, Talente unterschiedlichster künstlerischer Herkunft zusammenzubringen.

Höchste Zeit, die festgesessenen Glieder zu schütteln. Lautes Trommeln empfängt die Besucher im Club. An die 20 Musiker aus dem Senegal drängen sich auf der Bühne, traktieren ihre Instrumente und tanzen sich in einen Rausch. „Jeri-Jeri“ nennt sich diese Zusammenarbeit der Polyrhythmiker mit dem Berliner Techno-Pionier Mark Ernestus. Das Ergebnis ist eine fantastisch befreiende Ekstase, die zu vorgerückter Stunde etliche Besucherinnen zum Mittanzen auf die Bühne treibt.

Wer jetzt noch Energie hat, kann die auf einer Wippe im Festival Avant-Garten loswerden. Sie bugsiert ihn mit dem Kopf in eine verborgene Etage, in der geheimnisvolle blaulippige Mitarbeiterinnen eisgekühlten Sekt austeilen. Aber es gilt kühlen Kopf zu bewahren. Die Festspiele der Avantgarde haben ja gerade erst begonnen.

Chilly Gonzales & Adam Traynor: „The Shadow" bis 9.8., jew. 20.30, Rimini Protokoll: „Situation Rooms“ bis 24.8., tägl. ab 17.00, Internationales Sommerfestival bis 24.8., Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de