Anthony Doerrs Roman spielt gegen Ende des Zweiten Weltkriegs

Saint-Malo, August 1944. Zwei Monate zuvor sind die Alliierten an der französischen Küste gelandet, die deutschen Truppen befinden sich geschlagen auf dem Rückzug. Nur in der Stadt in der Nord-Bretagne haben sich noch Einheiten verschanzt und versuchen, die vom Meer umgebene Festung zu verteidigen. Die meisten Bewohner sind geflohen, in der Rue Vauborel 4 hält sich noch eine 16-Jährige auf. Sie horcht nach draußen, sie hört aus der Ferne die britischen Bomber heranfliegen, ansonsten ist die Nacht still. Etwas raschelt. Im Fensterladen steckt ein Stück Papier. Sie hält es sich an die Nase. Es riecht nach frischer Tinte. Lesen kann Marie-Laure das Flugblatt nicht, sie ist blind.

Ein paar Häuserblocks weiter sitzt der 18 Jahre alte deutsche Gefreite Werner Hausner im Keller eines Hotels und horcht in sein Funkgerät. Minuten später werfen die Bomber ihre tonnenschwere Last ab, Marie-Laure verkriecht sich unter ihrem Bett, im Keller des Hotels geht das Licht aus.

In acht kurzen Kapiteln beschreibt Anthony Doerr in seinem Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ die verzweifelte Situation in der am Meer gelegenen Stadt und führt gleichzeitig seine Hauptfiguren ein. Sehr viel später werden sich die Wege der beiden Teenager kreuzen.

Doch zuvor springt der amerikanische Schriftsteller zehn Jahre zurück. Marie-Laure lebt da noch mit ihrem Vater in Paris. Er ist ein geschickter Handwerker, der im Museum National D’Histoire Naturelle arbeitet und seiner Tochter ein Modell der Nachbarschaft gebaut hat, damit sie sich auf den Straßen besser zurechtfindet. Nachdem die Deutschen Paris besetzt haben, fliehen Monsieur LeBlanc und Marie-Laure nach Saint-Malo zu einem etwas wunderlichen Onkel. Werner Hausner wächst als Waise mit seiner jüngeren Schwester Jutta in einem Kinderheim in Essen-Zollverein auf. Er ist ein technisch begabter Junge, der es schafft, an einer der Eliteschulen der Nazis angenommen zu werden, und später als Soldat in eine Wehrmachtseinheit kommt, die Feindsender aufspürt.

In einer präzisen Sprache lässt Anthony Doerr das Leben des französischen Mädchens und des deutschen Jungen in dieser schwierigen Zeit lebendig werden. Marie-Laure ist zwar gehandicapt, doch sie wächst in der Obhut ihres Vaters und später in Saint-Malo bei einer Haushälterin des Onkels sehr behütet auf. Werner hingegen muss die brutale Ausbildung der Napola-Schule überstehen. Der schmächtige Junge mit den weißen Haaren kann sich anpassen und überlebt die gnadenlose Auslese. Die Schilderungen des Napola-Alltags gehören zu den berührendsten Passagen in Doerrs genau recherchiertem Roman.

Der Autor, 1973 in Cleveland geboren, springt zwischen dem August 1944 und der davor liegenden Geschichte hin und her und erlaubt sich, seine Weltkriegsgeschichte in weiteren Kapiteln über das Jahr 1974 bis in die aktuelle Gegenwart weiter zu spinnen.

Ein weiterer Erzählstrang sorgt für zusätzliche Spannung in dieser ohnehin schon dramatischen Geschichte. Im Pariser Naturkunde-Museum gibt es einen wertvollen blauen Diamanten, genannt das „Meer der Flammen“. Bevor die Nazis Paris okkupieren, werden der Stein und drei Imitate von verschiedenen Museumsmitarbeitern mit auf die Flucht genommen. Auch Marie-Laures Vater besitzt einen dieser Steine, der einer Sage zufolge vor dem Tod bewahren soll.

Anthony Doerr ist ein atmosphärisch dichter, sprachlich eleganter und fesselnder Roman gelungen. Das Buch ist der ideale Lesestoff für Reisen oder Strand, weil die gut 500 Seiten in kurze, selten länger als drei Seiten lange Kapitel geteilt sind.

Anthony Doerr: „Alles Licht, das wir nicht sehen“. Dt. v. Judith Schwaab, C.H. Beck, 519 S., 24,90 Euro