Chilly Gonzales bringt zum Auftakt des Internationalen Sommerfestivals „The Shadow“ zur Uraufführung

Köln. Der Fluch der Renovierung ereilt nicht nur Hamburger Theater. Stefan Bachmann, Intendant des Schauspiels Köln, musste sogar an eine andere Spielstätte jenseits des Zentrums ausweichen. In eine aparte Fabrikanlage in Köln-Mühlheim, das Depot. Ein wenig erinnert sie an Kampnagel in Hamburg. An diesem heißen Sommertag wirkt sie mit ihren zahlreichen Cafés und Kübeln mit Grünpflanzen äußerst einladend. Der Fabrik-Charakter passt zu dem etwas anderen Theaterereignis, das hier gerade vorbereitet wird.

Chilly Gonzales, kanadischer Pianist, Komponist und Entertainer mit ungarischen Wurzeln und nach Stationen in Berlin und Paris mittlerweile Wahlkölner, probt eine theatrale Bühnenversion des Märchens „Der Schatten“ von Hans Christian Andersen. Gemeinsam mit seinem Landsmann, dem in Paris lebenden Filmregisseur Adam Traynor, bringt Gonzales „The Shadow“ am 6. August zur Eröffnung des Internationalen Sommerfestivals heraus. Das musikalische Schattenspiel mit Stummfilm-Elementen ist eine Koproduktion mit dem Schauspiel Köln.

Zwei Leinwände, eine waagerechte und eine senkrechte, rahmen die Musiker des Kaiser Quartett & Friends auf ihrem Säulenrondell ein, das ein wenig an das 19. Jahrhundert erinnert. So wie auch die aparten Mantel-Kostüme samt Zylinder, die der Hamburger In-Schneider Bent Angelo Jensen alias Herr von Eden den Schauspielern auf die Leiber gezaubert hat. Noch wird am Licht geschraubt. Adam Traynor dirigiert die Mannschaft mit gedämpfter Stimme, ein Mann mit besonnenem Temperament. Gonzales sitzt am Piano, richtig elegant sieht er aus ohne den üblichen Bademantel, mit dem er traditionell seine Konzerte bestreitet. Auch sonst nimmt er sich zurück. Keine launigen Ansagen. Höchstens mal ein Blick auf das Bühnengeschehen oder ein Nicken zu den Musikern. Die Klänge sind beschwingt, zart, unheimlich, mal inspiriert von französischen Impressionisten, mal Hitchcocks „Vertigo“, Vaudeville, Charlie Chaplin, Ragtime und klassischem Hollywoodkino. Auf der Bühne agieren Darsteller des Schauspiels Kölns wie Melanie Kretschmann in ungewohnt wortloser, gleichwohl expressiver Rolle.

„The Shadow“ erzählt in realen und in raffiniert konstruierten Schattenspiel-Szenen die Geschichte eines Gelehrten, der in den Süden reist und dort auf einem Balkon sitzend seines Schattens gewahr wird. Am anderen Morgen stellt er fest, dass er ihn verloren hat. Jahre später steht der Schatten mit menschlichem Antlitz bei ihm vor der Tür. Während der Gelehrte über das Edle, Schöne und Gute und Wahre schreibt, lehrt ihn der Schatten die Existenz des Bösen in der Welt. Nach einigen Abenteuern überredet der Schatten den Gelehrten schließlich zu einem Rollentausch mit Folgen.

Seit Langem ist Gonzales fasziniert von diesem Märchen, in dem es auch um Doppelgängertum und Identitätsfragen geht. Jason Charles Beck, wie er bürgerlich heißt, hat schließlich mit Chilly Gonzales selbst eine Spiegelfigur geschaffen, einen Charakter, der ihm kreative Freiheit ermöglicht, ihn beschützt, aber das Verhältnis ist kompliziert. „Chilly Gonzales kann Dinge tun, die ich nicht tun könnte, wenn ich immer authentisch sein müsste“, sagt er. „Ich sende ihn an meiner Stelle in die Welt, aber ich muss aufpassen, dass das nicht zurückschlägt.“

Dualität war bereits Thema des Films „Ivory Tower“, den Gonzales mit Adam Traynor 2010 herausbrachte und der überraschend zum Geheimtipp beim Locarno Festival avancierte. Gonzales spielt darin einen von zwei im Schachspiel rivalisierenden Brüdern. Die Idee einer Nemesis, eines Gegenspielers, gefällt ihm. In Traynor, der lange Jahre bei der auf Handpuppen basierten Hip-Hop-Band Puppetmastaz wirkte, fand er den idealen Kunstgefährten für die Andersen-Idee. Traynor liebt das Spiel mit den Möglichkeiten des Erzählens, will den Zuschauer in eine Fantasiewelt entführen. Dabei soll nicht immer ersichtlich sein, wer nun Mensch ist und wer Schatten. Bei Andersen stirbt der Gelehrte. Über das Ende von „The Shadow“ hüllt sich Gonzales in Schweigen. „Ich glaube nicht, dass der Schatten das Original vernichtet. Ich könnte nicht in einer Welt leben, in der der Schatten gewinnt.“ Es ist ein dunkles Märchen, das auch vom Unverstandensein des Außenseiters Andersen in seiner Zeit handelt. Dennoch soll es kein düsterer Abend werden. „Wenn es keine Sonne gibt, verliert auch das Dunkle an Kraft.“

In diesen Tagen ist Gonzales trotz Probenstresses bestens gelaunt. Alles wird derzeit unter seinen langen schmalen Fingern zu Gold. Für seine aktuelle Erfolgssträhne hat er gut zehn Jahre rackern müssen. In Toronto galt er lange Zeit als „der Typ neben der Sängerin Feist“. Erste Soloplatten zeigten zarte Erfolge. Spätestens, seit er auf Kampnagel exzessive Konzerte ablieferte, kennt man ihn. Sein Motto: „Ich bin nicht der Entertainer, der den Leuten gibt, was sie wollen. Ich gebe ihnen manchmal auch, was sie nicht wollen oder vielleicht doch und sie wissen es nur noch nicht.“ Aktuell ist sein Klavieretüdenbuch für Anfänger „Re-Introduction Etudes“ der absolute Renner an deutschen Musikschulen. 24 moderne Klavierstücke, die dem Etüden-gequälten Tastenanfänger Spaß und nebenbei eine Menge Technik vermitteln. Auch einen Grammy hat er gewonnen. Für einen Soundschnipsel, den er für das aktuelle Erfolgsalbum des französischen Pop-Duos Daft Punk beigesteuert hat. Das war vor drei Jahren. Seither hat er von den Musikern nichts mehr gehört, sich das Album selbst bei iTunes gekauft. Solche Begebenheiten nimmt er mit Humor. Anfragen anderer Künstler stapeln sich. Am liebsten spielt Gonzales aber immer noch für sich selbst. „Es ist anstrengend, in den Kopf eines anderen Künstlers zu steigen und zu versuchen, ihn zu verstehen.“

Seit Jahren tourt er mit dem für „The Shadow“ um Flöte und Horn ergänzten Kaiser Quartett aus Hamburger Musikern. Er mag ihren rhythmischen Sound. „Ich bin Barpianist. Musik war nichts, was ich im Elfenbeinturm gelernt habe, sondern auf Hochzeiten und jüdischen Religionsfesten wie Bar-Mizwas. Die Hamburger Musiker bringen diese Erfahrung mit“, sagt Chilly Gonzales. Sein Lieblingskomponist ist Johannes Brahms. „Weil er in Freudenhäusern gespielt hat, klingt seine Musik wahrhaftig, geerdet, gleichzeitig himmlisch.“ Für Gonzales setzt sich diese Kultur der realen Welterfahrung in Hamburg fort. Auf märchenhafte Weise auch in seinem etwas anderen Musical.

Chilly Gonzales & Adam Traynor: „The Shadow“ 6.8. 20.00, 7. bis 9.8., jew. 20.30, T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de