In der Doku „Die Wohnung“ ergründet Arnon Goldfinger ein Familiengeheimnis.

Vor etwa einem Monat ist Gerda Tuchler, die Großmutter des israelischen Filmemachers Arnon Goldfinger, im Alter von 98 Jahren gestorben, nun soll ihre Wohnung in Tel Aviv aufgelöst werden. Einige Enkelkinder und die Tochter erscheinen. Gemeinsam inspizieren sie die Überfülle an Dingen, mit denen sich die alte Dame und ihr schon Jahre zuvor gestorbener Ehemann Kurt umgeben haben: Kleidung und Schmuck, alte Armbanduhren, vielfach noch in Fraktur gedruckte deutsche Klassikerausgaben, Fotos, Briefe, Dokumente aus einer fernen Zeit und einem fremden Land. Die Tuchlers hatten 1937 gerade noch rechtzeitig nach Palästina fliehen können, wo sie offenbar versuchten, mitten in Tel Aviv ein Stück heiles Berlin zu konservieren.

Mit leiser Melancholie lässt Arnon Goldfinger seine Kamera beobachten, wie sich die Angehörigen mit mehr oder minder großem Interesse dieser fremden Welt nähern. Manchmal belustigt, manchmal auch ratlos nehmen sie merkwürdige Gegenstände in die Hand, die für ihre Besitzer einst wichtig waren, für die aber nun niemand mehr Verwendung findet. So füllen die Hinterbliebenen zahllose Müllsäcke und werfen sie in den Hof. Aber dann wird die Routine des Wegwerfens unterbrochen, denn Goldfinger entdeckt Gegenstände, die Fragen aufwerfen: einen Brief, eine Postkarte, ein Foto. Wer sind diejenigen, die in die Kamera lächeln? Und wieso tauchen plötzlich Exemplare der NS-Zeitung „Der Angriff“ auf, mit einem Reisebericht aus Palästina?

Ohne es zuvor zu ahnen, ist der Regisseur Arnon Goldfinger bei dieser Haushaltsauflösung auf ein Familiengeheimnis gestoßen, das ihn verstört, das er aber zugleich verstehen will: Offensichtlich waren seine jüdischen Großeltern mit dem SS-Offizier Leopold von Mildenstein und dessen Gattin eng befreundet. Mehr noch: Selbst nach Kriegsende trafen sie sich und unternahmen gemeinsame Reisen. In den Unterlagen entdeckt Goldfinger aber auch, dass seine Urgroßmutter Susanne Lehmann, die sich nicht rechtzeitig zur Emigration entschließen konnte, von den Nazis 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet wurde. Behutsam, aber beharrlich gehen Arnon Goldfinger und seine Mutter den Spuren nach, sie reisen nach Deutschland, besuchen die Schauplätze, nehmen Kontakt zur Tochter von Leopold von Mildenstein auf und bringen nach und nach Licht in eine tragische, aber auch merkwürdige Familiengeschichte, in der es ums Überleben und ums Vergessen geht und die den Zuschauern dieses mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilms manchmal fast den Atem stocken lässt.

„Die Wohnung“ Di 5.8., 22.45 Uhr, ARD