Abendblatt-Redakteure erzählen, was sie bis heute mit dem Buch „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry verbindet

Kitsch ist etwas, das man weltweit versteht, aber Kitsch ist auch nicht immer leicht zu identifizieren: Was ist vom kleinen Prinzen zu halten? Nein, nicht von „Baby George“, dem royalen Spross der Windsors, von dem so ausgiebig die Rede ist dieser Tage, weil der kleine Hosenscheißer ein Jahr alt wurde; sondern von dem Büchlein mit dem Titel „Der kleine Prinz“.

Von jenem Klassiker, der seit sehr, sehr langer Zeit Generationen von Schülern verzückt oder terrorisiert hat, kommt ganz auf die Bereitschaft an, sich auf die Geschichte um den jungen Besucher auf dem Planeten Erde einzulassen, der eigentlich von einem klitzekleinen Asteroiden stammt, aber Freundschaften gegenüber schrecklich aufgeschlossen ist.

„Der kleine Prinz“ ist eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten, Gesamtauflage: 80 Millionen. Es ist eigentlich in jede Sprache übersetzt worden, sogar ins Lateinische. Was dann jedem Latein-Unterricht in der Mittelstufe einen extrem modernen Anstrich geben dürfte. „Der kleine Prinz“ erzählt eine zeitlose Geschichte über Freundschaft und Menschlichkeit, in der jeder etwas finden kann, das ihn bewegt oder beschäftigt. Empfänglich für die humanistischen Signale, die der Text aussendet, sind besonders junge Leser: Im „Kleinen Prinzen“ geht es um das Ich und die anderen, um die Überwindung der Einsamkeit. Was für eine grundsätzliche Angelegenheit also, die alle betrifft. Dass ein bisschen Kitsch dabei ist, wenn universelle Botschaften unter die Menschen gebracht werden, ist wohl unvermeidlich. Einfache Aussagen, die nicht unbedingt der Realität standhalten, Vereinfachungen, überharmonisierte, süßliche Wahrnehmungen – gibt es die in Antoine de Saint-Exupérys Welthit? Sicher. Genau deshalb versteckt heute manch einer verschämt das Bändchen in den untersten Regalfächern. Wie das so ist mit den Büchern der Jugend, man denke auch an den „Steppenwolf“ oder „Siddharta“, die Hesse-Romane.

Saint-Exupéry, der französische Adelige, starb am 31. Juli 1944, vor 70 Jahren, als Nazi-Deutschland die Welt in einen großen Krieg gezogen hatte. Es war eine Zeit, in der ein moralisches Stück wie „Der kleine Prinz“ ein literarisches Gegenwicht zu der verderbten Wirklichkeit zu bilden versuchte – vergebens. Saint-Exupéry war Schriftsteller und Pilot, er war ein Verlorener in der militaristischen Gegenwart des 20. Jahrhunderts. Als Flieger arbeitete er für verschiedene Unternehmen, ehe sein Buch „Terre des Hommes“ (dt.: „Wind, Sand und Sterne“) 1939 ein großer literarischer Erfolg wurde. Im Anschluss war er als Autor etabliert, ließ aber nicht vom Fliegen. Um seinen Tod ranken sich viele Legenden, klar ist eines: Von einem Aufklärungsflug für die freien französischen Streitkräfte kehrte er am 31. Juli 1944 nicht zurück. Im Jahr 2000 wurde auf dem Grund des Mittelmeers das Wrack seines Flugzeugs geborgen.

Saint-Exupéry hinterließ der Welt „Le petit prince“. Die meisten Menschen haben seine anderen Bücher nie gelesen. Er selbst hielt das posthum erschienene Werk „Citadelle“ (dt. „Die Stadt in der Wüste“) für sein wichtigstes. Sein bekanntester und durch die vielen Verewigungen in Poesiebüchern nur etwas abgegriffener Satz ist dieser: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für die Augen unsichtbar.“ Auch in der Redaktion des Hamburger Abendblatts gibt es Leser des „Kleinen Prinzen“, und weil ein Leser gerade zu diesem Buch eine spezielle Beziehung hat, das kann gar nicht anders sein, berichten an dieser Stelle einige von ihnen, was sie mit Saint-Exupérys Evergreen heute noch verbinden.

Über Grenzen

von Volker Behrens

„Der kleine Prinz“ ist Leon Werth gewidmet, einem Freund des Autors. Bei anderer Gelegenheit hat er ihm einen Brief geschrieben, in dem er von einem Kriegserlebnis der besonderen Art berichtet, der Begegnung mit einem deutschen Matrosen in einem französischen Restaurant.

„Es ist der Inhalt der zählt. Die menschliche Substanz. Er war ganz einfach ein Freund. Und wir waren einig unter Freunden.“

Als ich zu Beginn der 80er-Jahre in England als Austauschlehrer arbeitete, lud meine französische Kollegin Sylvie mich ein, über Ostern mit ihr nach Paris zu fahren, um die Stadt unsicher zu machen. Wir besuchten auch ihre Eltern und wurden von ihnen sehr freundlich empfangen. Im Wohnzimmer stand wie eine Skulptur ein mannshoher Flugzeugpropeller aus Holz. Wieso? „Lass dir das von meinem Vater erzählen!“, sagte sie. Na toll. Mein Französisch war etwas rostig, ihr Vater sprach kein Englisch und schon gar kein Deutsch. Aber es ging. Er war im selben Aufklärungsgeschwader geflogen, wie Antoine de Saint-Exupéry. Saint-Ex, wie er ihn nannte, sei ein guter Freund gewesen und ein leidenschaftlicher Flieger. 1944 kam er von einem Aufklärungsflug nicht mehr zurück und blieb verschollen. Der Propeller war ein Erinnerungsstück an die gemeinsame Zeit mit ihm.

Sylvies Vater war wie Saint-Exupéry Zeuge des deutschen Angriffs auf Nordostfrankreich gewesen und fragte mich nach meinem Vater. Der war mit 18 Jahren Soldat geworden und die meiste Zeit des Krieges in der Normandie stationiert gewesen. Wir unterhielten uns über den Krieg, seine Gräuel, seine Sinnlosigkeit und Soldaten, die einfach nur nach Hause wollen. Das funktionierte trotz der Sprachprobleme. Schließlich ging er in den Keller und kam mit drei Flaschen gutem Châteauneuf-du-Pape wieder zurück. „Bringe sie deinem Vater mit und grüße ihn von mir“, sagte er zum Abschied.

Kitsch? Nein, Poesie!

von Juliane Kmieciak

Vor dem inneren Auge sieht man den Satz als Sinnspruch neben Erich-Fried-Postkarten am Bahnhof hängen und ist dann kurz davor, ihn ein bisschen kitschig zu finden: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“

Als ich den Satz zum ersten Mal gehört habe, kannte ich den Unterschied zwischen Kitsch und Poesie noch nicht. Damals, im Französischunterricht, fand ich ihn einfach nur schön.

Dabei hatte ich das Fach bis dahin gehasst. Komplizierte Grammatik und absurde Geschichten von diesem Pierre, der immerzu un kilo de irgendwas auf dem Markt einkauft. Mit dem kleinen Prinzen änderte sich das. Durch so wunderbar kluge und klangvolle Sätze wie „On ne voir bien qu’avec le cœur. L’essentiel est invisible pour les yeux“ hatte das ganze Vokabelgepauke plötzlich Sinn. Eine große Geschichte in einfachen Worten.

Nach Antoine de Saint-Exupéry haben das auch andere versucht. Sergio Bambaren und Paulo Coelho zum Beispiel. Und so versuchte ich es Jahre nach dem Abitur auch mit dem träumenden Delfin und mit dem Alchimisten. Aber l’essentiel wusste ich ja längst vom petit prince – und mit dem Unterschied zwischen Kitsch und Poesie konnte ich langsam auch etwas anfangen ... Heute besitze ich übrigens noch drei Ausgaben vom kleinen Prinzen – wie es sich für eine ordentliche Französischlehrerin gehört (auch, wenn sie dann doch in einer Redaktion gelandet ist).

Im falschen Film

von Verena Fischer-Zernin

Jean-Bernard heißt der Lockenkopf, der da plötzlich in unserer Klasse sitzt, das heißt, neben mir. Einfach so, ein Junge unter 25 giggelnden Klosterschülerinnen. Wer auch immer sich den koedukativen Austausch mit Mönchengladbachs Partnerstadt Lille ausgedacht hat, er kann nicht damit gerechnet haben, welche hormonellen Eruptionen der Besuch einer Gruppe französischer Jungs im Jahre 1982 in der Marienschule auslösen würde.

Und erst recht nicht darüber nachgedacht, ob das eigentlich so gottgefällig sei, wie es die Schulleitung wünscht (und der Papst sowieso). Wenigstens die Lektüre ist über jeden Zweifel erhaben, wir lesen gerade „Der kleine Prinz“. Im französischen Original natürlich, mit reihum Vorlesen und so. Sentenzen wie „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ unfallfrei über die Lippen zu bringen ist schon unter normalen, also jungsfreien Umständen eine Herausforderung. Unter Jean-Bernards blauem Blick habe ich beim Lesen das Gefühl, dass meine linke Seite binnen Sekunden zerfließt.

Doch als der Satz geschafft ist, spüre ich seine Hand auf meinem linken Unterarm. Ich male mir schon den Beginn einer wunderbaren Freundschaft aus – ach nein, das ist jetzt der falsche Film – da sehe ich ihn aus dem Augenwinkel eine andere Hand ergreifen.

Ach, Jean-Bernard. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast, hast du das vergessen?

Eifersüchtig

von Holger True

Jakob ist schuld. Er hat mir den „kleinen Prinzen“ verdorben, ein für allemal.

Nein, Jakob war nicht etwa mein locker-flockig geduzter Französisch-Lehrer, Jakob war ein Mitschüler zu Beginn der gymnasialen Oberstufe. Eigentlich ein ganz netter Typ, leider auch ein Konkurrent in Sachen Britta, der Hübschen aus dem Parallelkursus. Die wär nämlich so, wie Mädchen eben sind: Leicht zu beeindrucken von Jungs mit langen lockigen Haaren. Von Jungs, die verträumt aus ihren rehbraunen Augen gucken und Gitarre spielen können. Von Jungs wie Jakob. Während es bei mir nur zu den ersten Akkorden von „Smoke On The Water“ reichte, lullte er beim Lagerfeuer mit Singer/Songwriter-Folk ein und die Mädchen fraßen ihm aus der Hand. Auch Britta. Als der Kerl dann noch „Der kleine Prinz“ öffentlich zu seinem Lieblingsbuch erklärte, waren endgültig alle hin und weg. „Der ist ja so sensibel!“

Mag sein, dass ich ein klein wenig eifersüchtig war, jedenfalls schwor ich mir damals, diesem Mädchen-Beeindrucker-Machwerk keine Chance zu geben. Niemals. Man sieht nur mit dem Herzen gut? Da waren Charles Bukowski und Motörhead, meine damaligen Favoriten, ganz anderer Meinung.

Irgendwann, man muss nur warten können, hatte Britta genug von „guten Gesprächen“ und Lagerfeuerromantik. Den „kleinen Prinzen“ mochte sie zwar immer noch, aber das war dann auch egal.

Verhängnisvoll

von Vera Altrock

Mit dem Buch „Der kleine Prinz“ verbindet mich eine ganz besondere Beziehung, nämlich gar keine. Und genau das wurde mir als Oberstufenschülerin zum Verhängnis. Ebenso wie „Die Buddenbrooks“ oder „Die Blechtrommel“ gehörte das „moderne Märchen“ von Antoine de Saint-Exupéry zum Standard-Repertoire unseres Französisch-Leistungskurses. Mehr noch: Es war eines der Lieblingswerke meines Lehrers Volkert Ipsen – übrigens mein Lieblingslehrer am Carl-Jacob-Burckhardt-Gymnasium in Lübeck wegen seiner an sich sehr geschmackssicheren Auswahl an Unterrichtsmaterial.

Normalerweise lasen wir Marcel Proust oder diskutierten Essays aus der „Marie Claire“. Und nun „Der kleine Prinz“. Als Klausurthema. Ein Junge, der sich mit einer Blume streitet und dann beschließt, in die Welt hinauszuziehen, um nach wahrer Freundschaft zu suchen. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“ – die zentrale Aussage des Buches empfand ich als Plattitüde. Meine Arbeit wurde ein Verriss, dementsprechend desaströs benotet (Lieblingsbuch des Lehrers!). Im Jubiläumsjahr habe ich mir fest vorgenommen, den Prinzen nun noch einmal zu lesen – mit anderen Augen und natürlich mit dem Herzen.