Das fantasievolle Roadmovie „Die Karte meiner Träume“ ist so skurril wie zauberhaft

„T.S. ist wie ich. Ich identifiziere mich mit ihm. Dank seiner Fantasie gewinnt T.S. diesen renommierten Preis. Aber als er dann im Rampenlicht steht, will er bloß nach Hause auf seine Ranch. Genau wie ich: Ich fühle mich immer fehl am Platze“, sagt Jean-Pierre Jeunet über die Hauptfigur seines neuen Films „Die Karte meiner Träume“.

T.S. Spivet (Kyle Catlett) ist darin Ich-Erzähler und dominierende Person. Er ist ein zehn Jahre alter Neunmalklug, ein etwas neurotischer Tüftler und Erfinder, ein Wunderkind mit dem Spitznamen „Leonard da Vinci von Montana“.

T.S., die Initialen stehen für Tecumseh Sparrow, lebt mit seinen Eltern und Geschwistern auf einer abgelegenen Ranch in Norden der USA. Außer auf Dosen zu schießen und sich im Lassowerfen zu üben wie sein Zwillingsbruder Layton (Jakob Davies) kann man nicht viel anstellen in Montana. Aber zum Cowboy taugt T.S. nicht, er zeichnet lieber Landkarten und Diagramme und stellt mathematische Berechnungen an.

Erfunden wurde das amerikanische Wunderkind von Reif Larsen, auf dessen Roman der Film von Jean-Pierre Jeunet basiert. Nach seinem großen Erfolg „Micmacs“ hatte Jeunet keine Lust, wieder selber ein Drehbuch zu schreiben und stieß dabei auf den Erstling des jungen US-Schriftstellers. Dessen Buch strotzte nur so vor fantastischen Einfällen und Spleens und passte deshalb haargenau in die Bilderwelt des französischen Filmemachers mit seinen skurrilen Figuren.

Denn nicht nur T.S. hat einen ausgesprochenen Tick. Seine Mutter Dr. Clair (Helena Bonham Carter) ist eine verschrobene Insektenforscherin, sein Vater (Callum Keith Rennie) ein knorriger whiskytrinkender Cowboy, der direkt aus einem John-Ford-Western entsprungen scheint, seine Schwester Gracie (Niamh Wilson) ist ein Fernseh-Junkie und sein Bruder tot. Layton starb bei einem Unfall mit einem Jagdgewehr, während T.S. die Schallwellen der Schüsse messen wollte. Das bereitet dem Jungen eine ganze Menge Schuldgefühle.

Nach der ausführlichen Schilderung des ländlichen Idylls aus Maisfeldern, sanften Hügeln, einem azurblauen Himmel und rot gestrichenen Scheunen wird „Die Karte der Träume“ zum Roadmovie. T.S. schlägt sich als Hobo in einem Güterzug inklusive eines schicken Wohnmobils und als Tramper in einem 40-Tonner-Truck bis nach Washington D.C. durch, wo er am berühmten Smithsonian Institute einen Forscher-Preis für die Entwicklung eines Perpetuum Mobiles entgegen nehmen soll. Zwar zweifelt er, ob man einem Zehnjährigen diese umwerfende Erfindung abnehmen wird, doch mit seiner entwaffnenden Art fliegen ihm die Herzen der Erwachsenen und die von Miss Jibsen (Judy Davis) beim Gala-Dinner zu. Schließlich findet sich der Montana-daVinci auch noch im Fernsehen wieder, weitere Überraschungen folgen.

Für Jean-Pierre Jeunet war „Die Karte meiner Träume“ eine neue Erfahrung, denn abgesehen von der „Alien“-Sequel hat er in den USA und nicht in Frankreich gedreht, außerdem zum ersten Mal in 3-D, was hervorragend zu den ganzen Skizzen und Grafiken passt, die T.S. zeichnet.

Dem Zuschauer fliegt auch schon mal ein Lasso entgegen, denn schließlich spielt der Film ja auf einer Ranch. Das Drehbuch strotzt nur so vor kuriosen und witzigen Einfällen, und Jeunet verwandelt diese Vorlagen mit seinen außerordentlichen inszenatorischen Fähigkeiten. Die kennen Cineasten bereits aus „Die Stadt der verlorenen Kinder“, „Die fabelhafte Welt der Amélie“ und aus „Micmacs“. Auch „Die Karte der Träume“ ist ein zauberhafter Film für die ganze Familie geworden, mit prächtigen Naturkulissen und präsenten Schauspielern.

Mittendrin stapft Kyle Catlett als T.S. durch Amerika. Der junge Schauspieler wird zum echten Glücksfall für Jeunet.

++++- „Die Karte meiner Träume“ USA 2014, 105 Minuten, o. A.; R: Jean-Pierre Jeunet, D: Kyle Catlett, Helena Bonham Carter, Judy Davis, Callum Keith Rennie, täglich im Abaton (OmU), Cinemaxx Dammtor (auch OF), Passage, Savoy (OF), UCI Wandsbek, Zeise; www.kartemeinertraeume.de