Als Ute Craemer 1965 von Hamburg aus mit dem Schiff nach Südamerika aufbrach, wusste sie nicht, dass diese Reise ihr Leben, aber vor allem das Armenviertel Monte Azul verändern sollte. Das Porträt einer Deutschen, die im krisengeschüttelten WM-Land Brasilien Außergewöhnliches geschaffen hat

Am Anfang waren es nur ein paar Kinder. Sie klopften an der Haustür und fragten: „Hast du etwas für uns?“ Und im Gegensatz zu den meisten Nachbarn wollte Ute Craemer den Kindern aus São Paulos Armenviertel Monte Azul nicht die Tür vor der Nase zuschlagen. „Ich habe nie Geld gegeben, aber ich konnte sie auch nicht wegschicken“, sagt sie und streicht sich mit der Hand über die bunte Wollmütze, die ihre grauen Haare nur zur Hälfte verdecken und auf die sie trotz 23 Grad im Schatten nicht verzichten will.

Ute Elsa Ludovike Craemer, 76, sitzt auf einem weißen Plastikstuhl vor dem Eingang der Favela Monte Azul, trinkt café com leite, Kaffee mit Milch, und grüßt im Minutentakt vorbeigehende Nachbarn. „Oi, tudo bem?“, „Hallo, wie geht’s?“, fragt sie eine ältere Frau. Diese nickt freundlich mit dem Kopf und bahnt sich langsam ihren Weg durch die engen Gassen der Favela, die seit mehr als 40 Jahren Craemers Arbeitsplatz, Zuhause und Bestimmung ist. „Monte Azul ist meine Heimat“, sagt Craemer. Seit 1971 lebt die drahtige Frau direkt neben dem Elendsviertel im Süden São Paulos, aus dem sie über die Jahre eine echte Vorzeige-Favela gemacht hat. Ein kleines Utopia in der Megacity.

São Paulo ist nach Tokio und Mexiko-Stadt der drittgrößte Ballungsraum der Erde. Mehr als 21 Millionen paulistas leben in oder rund um die Stadt, in der am 12. Juni das WM-Eröffnungsspiel zwischen Brasilien und Kroatien stattfinden soll. Ein Fünftel davon wohnt in einem der zahlreichen Elendsviertel, die sich wie ein Krebsgeschwür rund um die teure Innenstadt ausgebreitet haben. Mit 120.000 Einwohnern ist Heliópolis die größte Favela der Stadt, im vergleichsweise beschaulichen Monte Azul, dem „blauen Hügel“, leben 3000 Menschen. Und fast alle von ihnen kennen Ute Craemer, oder besser: Utschi, wie man Craemers Vornamen in Brasilien ausspricht.

Um Utschis Bedeutung für Monte Azul zu verstehen, muss man weit zurückblicken. 1965 bestieg die Globetrotterin, die ihre Kindheit und Jugend in Graz, Belgrad, im ägyptischen Alexandria und dem pakistanischen Lahore verbracht hatte, ein Dampfschiff von Hamburg nach Brasilien. In Londrina, im Süden des Landes, wollte sie vorübergehend als Entwicklungshelferin arbeiten. Doch Brasilien hatte es ihr schnell angetan. Sie nahm eine Stelle als Klassen- und Sprachlehrerin an der Waldorfschule in São Paulo an und suchte sich eine kleine Wohnung, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Favela Monte Azul lag. „Das war natürlich Zufall“, sagt Craemer, die schnell regelmäßig Besuch von Kindern aus dem Armenviertel bekam. „Ich wollte sie nicht abweisen. Ich habe sie dann ins Haus gelassen, mit ihnen gespielt und ihnen etwas beigebracht“, erinnert sich die Pädagogin, die auch Kinder aus der Waldorfschule einlud, die überwiegend aus gut verdienenden Familien kamen. „Ich wollte eine Brücke bauen, die die verschiedenen Gesellschaftsschichten verbindet“, sagt Craemer. Schon bald wurde ihr Haus für die Kinder zu einem Ort der Geborgenheit – und zum Ausgangspunkt eines einmaligen Projektes.

Craemer steht auf und geht mit schnellen Schritten. Auch mit 76 Jahren scheint die zierliche Dame keine Zeit verlieren zu wollen. Hier grüßt sie kurz einen Nachbarn, da winkt sie im Vorübergehen einem ehemaligen Schüler zu. Erst als aus einem knallgelb gestrichenen Haus neben dem Fußballplatz klassische Musik erklingt, bleibt sie kurz stehen. „Das ist unsere Musikschule. Hier gibt’s dreimal die Woche Gruppen- und Einzelunterricht. Und natürlich Orchesterprobe“, sagt Craemer, die wenige Sekunden später den Kopf durch die nächste offene Tür steckt. „Utschi!“, wird sie freundlich von einer dunklen Brasilianerin mit Schürze begrüßt, die gerade mit einer Gruppe von acht Jugendlichen ein sobremesa de gelatine, eine Art Erdbeerpudding, gezaubert hat. „Hier wird Backen und Kochen unterrichtet, aber natürlich auch das Saubermachen danach“, erklärt die rundliche Brasilianerin und drückt Utschi umgehend einen Erdbeerpudding in die Hand. „Lecker“, lobt Craemer, und streckt den stolzen 13- bis 16-Jährigen ihren erhobenen Daumen entgegen.

1979 hat Craemer mit den Einwohnern der Favela die Associação Comunitaria Monte Azul, den Gemeinschaftsverein Monte Azul, gegründet. Ziel war es, die Lebensbedingungen im Viertel zu verbessern, gemeinsam den Teufelskreis aus Armut, schlechter Ausbildung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Kriminalität, Gewalt und Drogen zu durchbrechen. Dass aber aus dem Nachbarschaftsprojekt ein von der Uno-Kinderhilfsorganisation Unicef ausgezeichneter Verein werden würde, der in den Katalog der 50 besten Sozialeinrichtungen Brasiliens als besonders förderungswürdig aufgenommen wurde, hätte Craemer sich nie träumen lassen. Mittlerweile arbeiten jedes Jahr 20 voluntários, freiwillige Helfer aus der ganzen Welt, und 250 fest angestellte Mitarbeiter, davon zwei Drittel aus Monte Azul, in der Associação. Längst haben auch andere Favelas im ganzen Land das Konzept kopiert. „Man kann nachhaltige Erfolge in den Favelas erreichen, ohne dass man sie mit Waffengewalt ,befrieden‘ muss“, sagt Craemer. Man braucht eben nur Geduld, Ausdauer, eine Vision und Zeit. Viel Zeit.

Auf dem „blauen Hügel“ gibt es einen Kindergarten und eine Krippe für 410 Kinder, berufsbildende Werkstätten, ein Programm zur Arbeitsvermittlung, Werkstätten für Behinderte, medizinische Grundversorgung, eine Notfallintervention für Drogenabhängige, das erste staatlich lizensierte Geburtshaus Brasiliens, Musikunterricht und eine Bio-Gärtnerei. Grundlage aller Projekte sind die von Rudolf Steiner entwickelte Anthroposophie und die Waldorfpädagogik, die Craemer direkt nach ihrer ersten Brasilienreise in Stuttgart kennengelernt hat.

„Ute ist eine besondere Person. Sie hat aus dem Armutsviertel einen wirklich lebenswerten Stadtteil gemacht“, sagt die Journalistin Dunja Batarilo, die 2010 mehrere Monate bei Craemer gelebt und aus ihren Beobachtungen die Biografie „Die Brückenbauerin“ geschrieben hat. Das Buch der Wahl-Hamburgerin, die in Altona arbeitet und lebt, soll rechtzeitig zum Finale der Fußball-WM erscheinen (siehe unten). „Für Ute gab es nie einen Masterplan. Sie hat sehr partizipativ gearbeitet, hat immer alle mitentscheiden lassen“, sagt Batarilo: „Utes Ursprungsimpuls waren immer die Kinder, die aus der Not heraus wie Erwachsene leben mussten. Erst bei Ute konnten Kinder wieder Kinder sein.“

Wie sehr die Kinder in der Favela Monte Azul auch heute noch Kinder sein können, wird besonders deutlich beim Besuch im Kindergarten, der schräg gegenüber der Musikschule liegt. Es wird geschrien und gejohlt, mit Bobby-Cars im Kreis um die Wette gefahren und um den besten Platz auf der Schaukel gestritten. Doch sobald Utschi das Gittertor zum Spielplatz aufmacht, stürmt eine ganze Horde von Dreikäsehochs auf sie zu. Die Pädagogin, die keine eigenen Kinder hat, hockt sich neben die Kleinen, streicht einem nach dem anderen über den Kopf und unterhält sich mit ihnen. Ob sie stolz sei auf ihr Lebenswerk? Utschi, der 1987 das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, überlegt nur kurz: „Nein, ich bin nicht stolz. Ich bin sehr dankbar.“

Dabei gab es auch in Craemers Leben in der Favela Monte Azul genügend Rückschläge, die aus Dankbarkeit schnell Enttäuschung hätten werden lassen können. Zwar haben viele Kinder dank der Brückenbauerin, wie sie sich selbst gerne nennt, einen Ausweg aus der Armut gefunden, haben studiert und leben als Anwalt oder Künstler in São Paulo, in Rio de Janeiro oder sogar im Ausland. Doch natürlich gab es auch Kinder, denen Craemer nicht helfen konnte oder die sich nicht helfen lassen wollten. „Einer, José, lief der extrem mächtigen Drogenmafia in die Arme, verkaufte das Zeug, landete im Gefängnis und wurde später sogar umgebracht“, sagt Craemer, die sich noch gut erinnert, wie sie mit José als Kleinkind im Kindergarten gespielt hat: „So eine Geschichte zerreißt mir das Herz.“

Aber auch Craemer selbst wurde mehrfach Opfer. 1999 wurde sie zusammen mit zwei Voluntários und dem gerade erst vierjährigen Sohn einer der Helferinnen überfallen und stundenlang im eigenen Badezimmer eingesperrt. Erst als sie 5000 Reais Lösegeld organisieren konnte, ließen die Übeltäter, vermutlich Mitglieder von São Paulos mächtiger Drogenmafia, von ihr ab. Vorerst zumindest. „Ich habe danach weiterhin Drohanrufe bekommen. Zum ersten Mal hatte ich wirklich Angst um mein Leben“, sagt Craemer, deren erfolgreiche Bemühungen um eine drogenfreie Favela damals nicht eben auf Wohlwollen der Drogenbanden stießen. Nach dem Überfall versteckte sich Craemer zunächst bei einer befreundeten Arztfamilie in einem anderen Viertel São Paulos, wenig später verließ sie Brasilien sogar für ein ganzes Jahr.

Es gelang ihr jedoch, auch diese Zeit zu nutzen und sich ihren Optimismus zu bewahren. Craemer reiste durch die Welt, hielt Vorträge und nahm an Konferenzen in Europa, Südkorea und Japan teil. Ihre eigene Brücke zurück nach Deutschland führte schon damals nach Hamburg, wo ihre Schwester, die sie mindestens einmal im Jahr in Rahlstedt besucht, auch heute noch lebt.

Nach einem Jahr entschied Ute Craemer schließlich, dass sie nun lange genug abgetaucht war. Sie wollte zurück, zurück nach Brasilien, zurück nach Monte Azul und vor allem zurück zu ihren Kindern. „Als ich dann aber wirklich zurückkam, merkte ich, dass die gesamte Organisation auch ganz gut ohne mich weitergelaufen ist“, sagt Craemer, die nur zu gern mit damals 62 Jahren aus dem operativen Geschäft der Associação ausschied. Sie blieb weiterhin Ansprechpartnerin und hat auch heute noch einen Schreibtisch im Büro des Kulturzentrums, kümmert sich nun aber vorrangig um die Aliança Pela Infância do Brasil, einen Verbund zum Schutz der Kindheit in Brasilien, den sie vor 14 Jahren gegründet hat.

„Ute ist und bleibt aber wichtig für die Favela“, sagt Neele, die seit Februar als Voluntária in Monte Azul arbeitet. Die 19 Jahre alte Freiwillige, die aus Hamburg-Rissen für ein Jahr nach São Paulo gekommen ist und in Monte Azul Geigenunterricht in der Musikschule gibt, lächelt: „Ute, du musst jetzt mal kurz weghören“, sagt Neele. „Was Ute in dieser Favela geschaffen hat, ist unglaublich. Aber ihre Arbeit ist noch nicht beendet.“

Natürlich hat Ute Craemer auch mit 76 Jahren noch lange nicht genug. Und eines hat sie in den mehr als 40 Jahren in Monte Azul, in denen sie so viel gelehrt hat, selbst gelernt: Es waren eben nicht nur ein paar Kinder, mit denen alles begann. Damals. Es waren ihre Kinder.

Kai-Pirinha, den täglichen WM-Blog aus Brasilien von Sport-Chefreporter Kai Schiller, finden Sie unter abendblatt.de/wmblog