Tisch, Spielzeug, Tütenlampe: Der Fotograf Thomas Henning erinnert in seinem Buch „Sperrmüll, 1983 – Hamburgs große Abfuhr“ an die Zeit, als sich jeder kostenfrei und draußen bedienen konnte.

Auf dem Sperrmüll habe ich mir den Tisch besorgt, auf dem ich später meine Examensarbeit getippt, Kuchen gebacken und eine Scheidungsurkunde unterschrieben habe. Einen großen Tisch mit gedrechselten Beinen. Er stand in Eppendorf, wo erfahrungsgemäß die schönsten Möbel auf der Straße landeten. Ich weiß noch, dass es etwa 22 Uhr war und schon ein weiterer Bewerber auf ihn zueilte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich demonstrativ auf den Tisch zu setzen. Dort saß ich dann knapp eine Stunde lang, bis zwei Mitbewohner ein Auto aufgetrieben hatten, mit dem wir das Trumm nach Hause in die Schanzenstraße fahren konnten.

Bis 1975 wurde der Sperrmüll in Hamburg monatlich abgefahren, danach quartalsweise. Im Sommer 1983 kündigte die Stadtreinigung an, dass der traditionelle Straßensperrmüll eingestellt würde. Endgültig beendet wurde er aber erst ein paar Jahre später. Die „planmäßige Abfuhr“ war in einer städtischen Verordnung geregelt, wonach der Sperrmüll nur „am Abend vor dem Abholtag zwischen 20 und 22 Uhr und am Abholtag zwischen 5 und 7 Uhr am Fahrbahnrand auf öffentlichem Grund bereitgestellt werden“ durfte. Das „verkehrsbehindernde Auseinandernehmen und das Verstreuen“ des Sperrmülls war aber „unzulässig“.

Na ja, aber genau das taten die Hamburger. Das Auseinandernehmen und Verstreuen war für Studenten, Migranten, Sammler und Trödler, Junge und Alte nämlich die Hauptsache. Sie durchsuchten die Sperrmüllgebirge mit Taschenlampen, kamen mit Fahrrädern, Anhängern und Kastenwagen, durchstöberten Klamotten, Koffer, Schrankwände. Besonders beliebt waren Fernsehkommoden und Setzkästen (wo sind die eigentlich geblieben?), natürlich auch Spielzeug und Geschirr.

Thomas Henning war damals 23 Jahre alt, ein junger Fotograf, und wohnte auch schon auf der Schanze, im Kloksweg. Ein Kollege hatte ihm den Tipp mit der Wohnung gegeben: Vormieter hat im Lotto gewonnen und zieht aus. „Vier Zimmer, Altbau, ohne Bad und ohne Heizung“, sagt Henning. Aber nur rund 300 Mark Miete für 90 Quadratmeter. Das gefiel ihm.

Hennings Freundin hatte einen Hund. Mit dem und einer Nikon F erkundete er die Umgebung. Ihn inspirierte die amerikanische „New Color Photography“ der 70er-Jahre und die „sozialdokumentarische Fotografie“, also knipste er Straßen, Häuser, Durchgänge und Bewohner. Allerdings interessierte sich damals kein Magazin für diese Fotos, sagt er: „Die schickten ihre Fotografen lieber nach Australien oder Marokko. Hamburg war kein Thema.“

Das hat sich geändert: Schon mit seinem Bildband „Schanze, 1980“ hat Henning beim Junius-Verlag (Stresemannstraße 375) einen Longseller gelandet. Jetzt legt er mit „Sperrmüll, 1983 – Hamburgs große Abfuhr“ nach. Nacht für Nacht fuhr er damals durch die Stadt, stoppte in Altona und auf St. Pauli, in Steilshoop und den Elbvororten und hielt den Sammeltrieb der Hamburger mit der Kamera fest. Es ist ein schönes, handliches Buch über das Glück des Findens geworden, in dem sich alle wiederfinden werden, die damals kein Geld für Möbelhäuser hatten. Oder die einfach gerne rumstöberten und mitnahmen, was ihnen gefiel.

Der Essay im Buch stammt von Pop-Autor Diedrich Diederichsen, der in Hamburg aufwuchs und den Sperrmülltext in Heft 10/83 der Zeitschrift „konkret“ veröffentlichte, mit Bildern von Thomas Henning. „Sperrmüll war ein Termin, an dem die Ordnung der bürgerlichen, diesseitigen Welt außer Kraft gesetzt wurde“, schrieb er. „Der Straßensperrmüll bedeutet vor allem die Aufhebung des Eigentumsbegriffs. Was auf der Straße lag, gehörte allen, ‚Mein und Dein‘ war außer Kraft. Die Dinge, die da in unförmigen planlosen Haufen liegen, stecken, zwischen anderen Dingen klemmen, sind plötzlich aus der Warenwelt herausgefallen, kennen keinen Eigentümer, Hersteller oder Käufer mehr. Sie sind wie die Menschen, die sie befingern und aufheben, eine Randgruppe, eine Randgruppe der Dingwelt. Waren-Zombies.“ Nach Diederichsens Beobachtung verschönerten Mittzwanziger und Mittdreißiger damals ihre „nordisch-aufgeklärten IKEA-Möbel“ mit „schön-altem Schrott“. Aber er ortete auch eine neue Generation von Sperrmüllbenutzern, für die nicht mehr das Kostenlose und Gebrauchte, „sondern das Besondere, Differentielle des jeweiligen Fundstücks“ im Vordergrund stand: „Die Kombination von Gebrauchtem, anderen Systemen entnommenen Versatzstücken“ sah Diederichsen als „Essential der neuen Subkultur-Ästhetik“.

Das kann man nun sehen, wie man will. Ich fand es sehr schade, als die Sperrmüllnächte aufhörten. Darüber, welche gebrauchten, aber prima erhaltenen Sachen heute etwa auf dem Recyclinghof Feldstraße im Container verschwinden, kann man nur den Kopf schütteln.

Thomas Henning: „Sperrmüll, 1983 – Hamburgs große Abfuhr“,mit einem Text von Diedrich Diederichsen, 128 Seiten mit mehr als 100 Farbabbildungen, 22,90 Euro