Hamburger Autorinnen und Autoren schreiben exklusiv im Abendblatt einen Fortsetzungskrimi: Ein Autor beginnt, der nächste setzt die Geschichte… Diesmal Teil der achte und letzte Teil von Robert Brack.

Vor dem Polizeipräsidium hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Der Mann, der sie anführte, trug einen zerschlissenen Mantel, eine leere Lambrusco-Flasche und kam mit der gläsernen Eingangstür nicht zurecht. Er schimpfte und machte Fingerabdrücke auf die blank geputzte Scheibe.

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Als die hinter ihm stehende junge Frau neben ihn trat, schaute er verblüfft zu, wie die Tür von allein aufging. Er betrat die Eingangsschleuse, die junge Frau folgte, und drei Männer drängten nach.

„Ihre Ausweise, bitte!“

Alle legten ihre Ausweise hin. Nur der Obdachlose murmelte: „Ausweis? Hab ich nie gehabt.“

„Claudius Lehnbrinck?“

„Hier!“

„Konstantin Lehnbrinck?“

„Hier!“

„Mirko Blatter?“

„Hier!“

„Florentine ...“

„Stopp! Das ist der falsche Ausweis! Der ist besser!“

„Junge Frau, Sie führen sich hier denkbar schlecht ein.“

„Entschuldigen Sie ...“

„Sind Sie Gesche Abendroth?“

„Ja.“

„Den anderen Ausweis behalte ich ein. Und wer sind Sie da mit der großen Flasche? Stellen Sie die mal ab.“

„Geht klar, Herr Wachtmeister. Aber meinen Namen glauben Sie mir sowieso nicht.“

„Raus damit!“

„Hadschi Halef Omar“, sagte der Obdachlose verlegen.

Der Beamte hinter der Panzerglasscheibe lief rot an. „Hör mal, wenn du mich ...“

„Ist wahr, weil ich gern klassische Literatur lese. Aber alle nennen mich kurz Hadsch. Ich kann auch wieder gehen ...“

„Ganz ruhig. Bitte eintreten.“

Die nächste Glastür ging auf.

Alle wurden durchsucht. Verdächtiges wurde nicht gefunden bis auf einen roten Hering aus Plastik beim Obdachlosen.

Sie wurden in ein Konferenzzimmer mit großem U-förmigem Tisch geführt. Zwei Uniformierte bezogen an der Tür Posten.

Mirko Blatter lächelte Gesche schief an, als sie sich setzten. Sie achtete darauf, dass zwischen ihr und dem Pfandleiher ein leerer Stuhl blieb. Auf der anderen Seite nahmen Claudius Lehnbrinck und sein Cousin Konstantin Platz. Zwei Stühle Sicherheitsabstand.

Hadsch fläzte sich am äußersten Ende auf einen Freischwinger.

Nun marschierten die Beamten ein und nahmen am Kopfende Aufstellung.

In der Mitte die in den Mordfällen Gerda Lehnbrinck und Irina Jung ermittelnden Beamten: Hauptkommissar Peter Meran und Kommissarin Philine Clausen. Er selbstzufrieden, sie selbstbewusst.

Links von ihnen Dr. Mayer, ein forensischer Experte, rechts der Gerichtsmediziner Prof. Müller, beide raschelten mit Papieren.

„Also, für mich ist der Fall klar“, begann der Hauptkommissar.

Sofort wurde er von Professor Müller unterbrochen: „Neue Erkenntnisse vonseiten der Gerichtsmedizin legen nahe, dass ich als Erster das Wort ergreife.“

Meran schaute ihn verkniffen an.

Kommissarin Clausen warf einen verunsicherten Blick in den Innenhof. Es fing an zu regnen. Ihr Blick wanderte zu den Verdächtigen. Ich weiß ja, wer der Mörder ist, dachte sie.

„Die Frage der körperlichen Verfassung des verstorbenen Jochen Kettels war noch zu klären“, dozierte der Professor. „Wäre er in der Lage gewesen, seine Frau Irina Jung zu töten und in die Krypta des Michels zu schaffen?“

Völlig unerheblich, dachte die Kommissarin. Doch ihr Kollege runzelte die Stirn.

„Nein!“, fuhr der Professor fort. „War er nicht. Der Mann war ein Wrack. Sein Herz war stark geschwächt, seine Muskulatur hatte sich zurückgebildet. Medizinisch betrachtet ...“

Blabla. Die Blicke der Zuhörer schweiften unstet umher. Bis ein Stichwort alle elektrisierte. Alle bis auf Hadsch.

„Bernhard Lehnbrinck! Der Gatte des tot aus dem Fleet geborgenen Mordopfers Gerda Lehnbrinck. Es gibt berechtigte Zweifel, dass er wirklich tot ist!“

Kommissarin und Hauptkommissar starrten einander an.

„Jagdunfall auf Rügen? Ha!“, tönte der Professor. „Der Totenschein wurde vom Tierarzt ausgestellt und der war Teilnehmer der Veranstaltung, also voreingenommen und noch dazu betrunken. Unser geschätzter Kollege Jan Nolbag von der Stralsunder Kripo hat mich ermuntert, seine Ermittlungsergebnisse anzuführen: Bernhard Lehnbrinck hatte sich an der Börse verzockt und wollte untertauchen, seine Frau stellte sich gegen ihn, nicht zuletzt, weil sie von seinem Verhältnis mit Irina Jung wusste. Lehnbrinck senior tötete seine Frau und dann Irina Jung, die als Zeugin unbequem wurde. Warum er die zweite Leiche in die Krypta des Michels brachte, muss noch ...“

Claudius Lehnbrinck und sein Cousin Konstantin grinsten.

„Aufhören!“, brüllte Hauptkommissar Meran. „Das ist ja grauenvoller Blödsinn!“

Der Professor schaute ihn indigniert an.

„Es war ganz anders!“ Meran schrie es fast.

„Ruhig, Chef“, mahnte seine Kollegin.

Die Vettern Lehnbrinck wurden blass, Gesche auch. Nur Hadsch schnarchte mit offenen Augen.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Professor“, fuhr Meran leiser fort. „Aber den Fall habe ich folgendermaßen aufgeklärt ...“

Das Gesicht des Professors verdüsterte sich.

„Claudius Lehnbrinck war es!“ Meran deutete auf ihn. „Er hat eine Verschwörung gegen Vater und Mutter angezettelt. Ja, der Jagdunfall war Mord! Claudius wollte sich der familieneigenen Reederei bemächtigen. Als Krähenmann hat er anschließend die Angst seiner Mutter vor Vögeln ausgenutzt, sie erschreckt und, als das nicht genügte, erdrosselt. Gesche Abendroth war zur Tatzeit in der Nähe. Er fürchtete, sie könnte etwas gesehen haben, und beschattete sie.“

Claudius Lehnbrinck sprang auf: „Lüge!“

Sein Cousin Konstantin erhob sich ebenfalls. „Genau!“, sagte er höhnisch. „Zu allem Überfluss verliebte er sich in die hübsche Schnalle und aus der Beschattung wurde eine Obsession.“

„Was?“, brüllte Claudius. „Das sind doch Fantasien eines Kokainsüchtigen!“

Die beiden schlugen aufeinander ein. Die Uniformierten eilten herbei und trennten sie.

„Als cooler Ducati-Fahrer mit Lederjacke und Ray-Ban-Brille hat er sich inszeniert, um Eindruck zu schinden“, höhnte Konstantin weiter. „Für die Tatzeit hat er von mir das Alibi bekommen. Die Angestellte in der Firma, die es bezeugte, hat heute noch Angst um ihren Job.“

„Du Schwein! Ich hatte Angst!“ Claudius wand sich im Polizeigriff. „Aber du hast auf mich geschossen, weil du mir die Firma abjagen wolltest! Hast nur nicht richtig getroffen, weil du auf Entzug warst! Und dann dein Größenwahn! Gehen Sie mal zu ihm nach Hause, Herr Kommissar, da finden Sie den Umhang des Krähenmanns!“

„Ach was“, entgegnete Konstantin. „Das Ding hab ich im Müll gefunden.“

Der Kommissar und seine Assistentin atmeten schwer. Sie hatten den Überblick verloren. Da klatschte jemand in die Hände. Dr. Mayer, der Forensiker, ein arroganter Kinnbartträger, breitete die Arme aus. „Hören Sie, der Mörder ist ein anderer.“

Alle starrten ihn entgeistert an.

Dr. Mayer deutete auf Hadsch. „Der Obdachlose ist’s gewesen!“

Hadsch fiel beinahe vom Stuhl. Er sprang auf: „Nee, nee, mit mir macht ihr das nicht.“

„Dieser Mann“, Dr. Mayer hob anklagend die Stimme, „hat angeblich den Krähenmann am Michel gesehen, in der Nacht, als Irina Jung dort ermordet wurde. An den Kleidern der Toten fanden wir Textilspuren von seinem verfilzten Pullover! Außerdem ist er am Tag der Ermordung von Gerda Lehnbrinck am Fleet gesehen worden. Er gab an, dort in einem Ruderboot genächtigt zu haben.“

„Klar“, sagte Hadsch. „Boote sind echt cool als Betten. Aber wieso sollte ich ’ne alte Frau dazunehmen?“

„Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?“, fragte Hauptkommissar Meran irritiert.

„Wegen der Flausen im Kopp von Ihrem Kollegen, was die Flausen von meinem Pullover betrifft? Ja klar, ich hab sie doch reingetragen. Durch den Geheimgang. Dachte mir, wenn sie tot ist, gehört sie in die Krypta. Und dass der Krähenmann da war, kann ich beweisen, er hat nämlich was verloren.“ Hadsch kramte in der Manteltasche und hielt eine Brosche hoch.

Kommissarin Clausen reckte sich. „Nein, Unsinn! Das ist die Mörderin!“ Sie deutete auf Gesche Abendroth, die weiß wurde wie die Wand. „Bitte ... nicht...“, hauchte sie.

„Doch, doch“, fuhr Clausen fort. „Ich habe nämlich auch mit unserem geschätzten Kollegen Jan Nolbag telefoniert. Und der teilte mir mit, dass Bernhard Lehnbrinck nach dem Jagdunfall auf Rügen keineswegs tot war. Er kam schwer verletzt in ein Pflegeheim. Aufgrund schwerwiegender Behandlungsfehler ist er bald verstorben. Sein Sohn Claudius machte das Heim, insbesondere die Pflegerin Gesche Abendroth, für den Tod verantwortlich, die nach der zwanzigsten Zehnstunden-Nachtschicht nicht mehr klar denken konnte und zwei Infusionen verwechselte ...“

„Mörderin!“, keifte Konstantin.

Gesche Abendroth stand gefasst auf und wandte sich an Hadsch: „Darf ich die Brosche mal haben?“

„Klar.“ Er reichte sie ihr. „Kann man aufklappen, ist ein Bild drin.“

„Ich weiß, ich hab sie schon mal gesehen.“ Gesche klappte die Brosche auf und zeigte sie allen, zuletzt Mirko Blatter, dem Pfandleiher, der bislang geschwiegen hatte.

Blatter erbleichte, sprang auf und rannte zur Tür. Die Uniformierten packten ihn und schleppten ihn zurück.

„Blatter ist der Mörder, der Racheengel, den wir alle komischerweise immer als Krähe gesehen haben.“ Gesche schaute die Kriminalisten vorwurfsvoll an. „Die Frau in der Brosche ist seine Frau Monika. Die haben Sie in Ihrem Ermittlungseifer ganz vergessen.“ Sie warf einen abfälligen Blick auf die Vettern Lehnbrinck. „Habgier mag ja ein Motiv sein. Aber Verbitterung, die in Verzweiflung umschlägt und den Drang zur Auslöschung der seelischen Qualen durch Auslöschung der Verursacher dieser Qualen auslöst ...“

„Entschuldigen Sie bitte“, fiel ihr die Kommissarin ins Wort, „das ist mir zu hoch.“

Blatter riss sich los: „Zu hoch? Dass meine Frau nach einem schweren Zuckerschock zuerst aus dem Hospiz und dann aus dem Pflegeheim verstoßen wurde? Zu hoch, dass eine reiche Dame wie Gerda Lehnbrinck dafür sorgte, dass eine Patientin, für die nicht gezahlt werden konnte, nach Hause geschickt wurde? Zu hoch, dass eine angeblich selbstlose Irina Jung sich anbietet, die Todkranke zu Hause zu pflegen und ihre Position ausnutzt, um unverschämte Honorare zu erpressen?“

„Warum haben Sie sie nicht angezeigt?“, fragte Clausen.

„Weil sie mich in der Hand hatte! Niemand hätte mir geglaubt, nachdem sie mich in ein Techtelmechtel gezogen hatte ... diese Teufelin!“

Hauptkommissar Meran ergriff das Wort: „Herr Blatter, Sie geben also zu, Gerda Lehnbrinck und Irina Jung getötet zu haben?“

„Sie sind ja so dumm“, murmelte Blatter. „Die Farbe der Umhänge.“ Er kicherte irre.

„Abführen!“, kommandierte Meran. „Die anderen können gehen!“

Nachdem der Gerichtsmediziner und der Forensiker als Letzte den Raum verlassen hatten, sanken die Kommissare erschöpft auf ihre Stühle.

„Scheiß drauf“, sagte Meran. „Den Ermittlungserfolg schreiben wir uns gut.“

Die Tür wurde aufgestoßen und zwei Zivilbeamte traten ein.

„KHK Meran und KK Clausen?“, fragte der Erste.

„Ja?“

„Sie sind vorläufig festgenommen!“

Meran lachte. „Ist heute der 1.April?“

„Sch-sch“, flüsterte seine Kollegin. „Dezernat für Interne Ermittlungen.“

Die Stimme des zweiten Beamten dröhnte durch den Raum: „Sie werden verdächtigt, gemeinschaftlich den Tod von Jochen Kettels durch rüde Verhörmethoden herbeigeführt zu haben!“

„Wenn ihr uns dann bitte folgen möchtet, Kollegen“, sagte der Erste beinahe mitfühlend.

„Scheiße“, hauchte Philine Clausen. Ihr Blick schweifte zum Fenster. Eine Krähe landete im Innenhof, dann eine zweite. Die eine schwarz, die andere braun. Beide starrten sie wissend an.

ENDE