Hamburger Autorinnen und Autoren schreiben exklusiv im Abendblatt einen Fortsetzungskrimi: Ein Autor beginnt, der zweite setzt die Geschichte fort, dann übernimmt der dritte … Acht Wochen lang. Immer donnerstags erscheint eine Folge.

Ich weiß nicht“, sagte Philine. „Ich weiß nicht, ich weiß nicht.“

Sie stand an dem großen, nach Westen hin ausgerichteten Bürofenster und sah nachdenklich hinaus. Die Frühlingssonne stand tief am Himmel. Meran saß an seinem Schreibtisch und blätterte in einem Stapel Computerausdrucke.

„Ich schon“, sagte er.

„Was weißt du?“

„Warum es ihn ratzfatz erwischt hat. Sein Herzinfarkt ist die logische Konsequenz.“

„Wir haben ihm zu heftig zugesetzt.“

„Eindringlich – ja! Sehr eindringlich. Weil wir recht hatten, Philine. Weil wir schlichtweg recht hatten.“ Er klopfte bekräftigend auf die Tischplatte. „Er war am Vorabend nachweislich mit ihr in diesem Bach-Konzert. Hatte die entwerteten Tickets ja noch in der Jackentasche. Und danach sind die beiden in der Krypta geblieben. Auf seine Veranlassung hin. Weil sie vermutlich wieder mal mit jemanden geflirtet hatte – egal. Jedenfalls ha’s ihm gereicht – und zack!“ Meran fasste sich an die Kehle. „Er erdrosselt sie. Aus die Maus.“

Philine drehte sich zu ihrem Kollegen um. Er triumphierte sichtlich. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht“, wiederholte sie. „Für mich gibt’s da noch einige offene Fragen.“

„Mein Gott, Philine. Sie hat ihn ständig betrogen. Das ist inzwischen Fakt.“ Er tippte auf die Ausdrucke. „Die Aussagen der Freunde, der Bekannten, der Nachbarn. Und unter dem Aspekt...“

„Ich meine diese merkwürdige Person.“

„Diesen Vogelmenschen etwa? Diesen Krähenmann?“ Meran machte eine unwillige Geste. „Philine“, sagte er dann. „Du weißt, was ich davon halte. Was glaubst du, was ich alles sehe, wenn ich hacke bin. Nein, nein, für mich ist der Fall Irena Jung endgültig und vor allem sauber abgeschlossen. Mord aus Eifersucht, Mord im Affekt. Der Täter kann bedauerlicherweise nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Er möge in Frieden – na ja.“ Er lachte ein knappes Lachen. „Meinetwegen kann Kettels auch als großer, böser Vogel in die Grube fahren. Ob in brauner oder schwarzer Kledage ist mir wurscht! Aber damit – damit hat sich’s dann auch! Wir, Philine, wir konzentrieren uns jetzt ausschließlich auf die Reederwitwe.“

Aus dem wir wurde nicht viel. Zumindest nicht mehr an diesem Abend. Kriminalhauptkommissar Meran wurde von seiner Reparaturwerkstatt telefonisch darüber informiert, dass sein Wagen abholbereit sei. Er brach umgehend auf. Philine Clausen versorgte sich aus der Kantine mit Kaffee und zwei halben, belegten Brötchen und begann dann mit der Zusammenstellung eines Dossiers unter dem Titel: „Gerda Lehnbrinck, 60, Mordopfer“.

Er breitete den Umhang auf dem Parkettboden aus, zupfte ihn zurecht und trat einen Schritt zurück. Es war ein total scheußliches Teil. Braun, kackbraun. Ein übler Geruch stieg davon auf. Muff und Mülltonnengestank, und auch Schweiß. Schweiß von Schwitzhänden und haarigen Achselhöhlen. Schweiß einer feisten Kreatur.

Er hatte den Mann davon hüpfen sehen, die albernen Rollschuhe in der Hand. Sie klapperten unsäglich laut aneinander. Ein hässliches Geräusch. Kinder hatten zu schreien begonnen. Gemächlich dahinschreitende Spaziergänger hatte es dermaßen durchzuckt, dass sie sich spontan ans Herz fassten und gerade noch beiseite springen konnten. Dieser Unhold. Und so jemand erdreistete sich, Frauen zu erschrecken. Eine so schöne Frau. Und sie auch noch zu betatschen. Dieses alte, faulende Stück Fleisch, eingehüllt in diesen stinkenden Fetzen. Es war widerwärtig.

Er zündete sich eine Zigarette an und dachte ein paar Züge lang konzentriert nach. Dann hatte er es. Er drückte die Kippe aus und kramte aus seiner Abstellkammer einen passenden Karton hervor. Und während er den Umhang mit spitzen Fingern, aber dennoch äußerst sorgfältig verpackte, umspielte ein diabolisches Lächeln seine Lippen.

Der 109er hatte drei Minuten Verspätung. Peter Meran stieg ein. Er war leicht genervt. Vielleicht auch wegen der Zweifel seiner Kollegin. Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich weiß nicht, äffte er sie insgeheim nach.

Sämtliche Plätze waren besetzt. Meran lehnte sich an die gelbe Stange und griff in die Halteschlaufe. Ihm schräg gegenüber saß eine junge, hübsche Frau, die an etwas in ihren Händen herumfummelte. Ein Häkeltäschchen. Sie hatte den Kopf gesenkt.

Bevor sich die Bustüren schlossen, sprang im hinteren Teil noch fix ein hagerer Typ herein. Die Jeans etliche Nummern zu groß, die Hosenbeine umgekrempelt. Das T-Shirt sehr, sehr knapp und mit einem dämlichen „Ich dich auch!“ bedruckt. Er war barfuß.

„Ihren Fahrschein, bitte!“, rief der Fahrer.

„Hab ich nicht!“, war die Antwort.

„Dann kommen Sie bitte nach vorn. Sie müssen im Besitz eines gültigen Fahrausweises sein.“

„Muss ich nicht!“

Meran bemerkte, dass die junge Frau aufblickte. Er bemerkte, dass ihre Hände zitterten. Ihre Augenlider flatterten. Sie hatte schöne Augen. Andere Fahrgäste sahen sich nach dem „Ich dich auch“-Typ um. Meran schätzte ihn auf Mitte, Ende Zwanzig. Längeres schmutzig-blondes Haar, unrasiert. Könnte ein Junkie sein, obwohl die in der Regel nicht so herumkrähten. Krähen, kohlschwarze Krähen, kam ihm in den Sinn. Warum, verdammt, warum? Weil seine ansonsten hochgeschätzte Kollegin wieder einmal …

Der HVV-Fahrer machte offenbar Anstalten, von seinem Sitz aufzustehen. Bei laufendem Motor. Bei weitaus mehr als drei Minuten Verspätung.

„Ey, Alter!“, vernahm Meran von einem der vorderen Plätze eine tiefe Männerstimme. „Komm in die Hufe, fahr weiter!“

„Ich kann keine Schwarzfahrer befördern.“

Mehrere Personen wurden unruhig. Äußerten sich empört.

„Willst du’n Klatsch auf die Ohren?“

Meran seufzte. Er wusste, dass er gefordert war. Als Beamter, als Kriminalkommissar. Kriminalhauptkommissar, ausgestattet mit dem entsprechenden Dienstausweis. Er zog ihn hervor.

Die junge Frau sprang auf. Panik im Blick. Mit bebender Stimme.

„Ich will raus! Ich will hier raus!“

„Ruhe! Beruhigen Sie sich bitte“, setzte Meran an. „Ich bin ...“

Weiter kam er nicht. Der renitente Schreihals riss die Arme hoch und johlte: „Das ist die Ha-Ha-H-V-V-Kontrolle, keine Sau will sie sehen, kein Mensch sie verstehn …!“

„Lassen Sie mich raus! Lassen Sie mich sofort hier raus!“

„Alter, ich wiederhol mich ungern!“

„Hören Sie, ich werde …!“, entrüstete sich der Fahrer.

„Ruhe!“, schrie Hauptkommissar Meran noch einmal. Er hielt seinen Ausweis hoch. „Polizei!“

Er wurde übertönt. Denn jetzt riefen und schrien mehrere Personen wild durcheinander. Sprangen auf. Ein Tumult brach aus. Und die hübsche, junge Frau trommelte in purer Verzweiflung mit beiden Fäusten gegen die Bustürscheibe.

Philine Clausen starrte auf den Bildschirm. Sie hatte „Gerda Lehnbrinck, Hamburg“ eingegeben, einen Artikel nach dem anderen angeklickt, Zeile für Zeile gelesen, Stichworte notiert, Zitate.

Gerda Lehnbrinck, geborene Schaefer, war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. In Barmbek, als jüngste von drei weiteren Töchtern des Ehepaars Susanne und Karl-Heinz Schaefer. Der Vater, ein Finanzbeamter, war 1995 im Alter von 73 Jahren gestorben. Die Mutter hatte zwei Jahre später „das Zeitliche gesegnet“. Da war Gerda schon seit über 20 Jahren mit dem Reeder Bernhard Lehnbrinck verheiratet gewesen. Ein sportlicher, ein lebensfroher Mann. Exzellenter Weinkenner. Gourmet. Teilnehmer der Prominentenjagdgesellschaft „Rügen Cross Country“. Der Jagdherr ein bekannter TV-Seriendarsteller. Bernard Lehnbrinck war während der Jagd tödlich verunglückt. Vom Pferd gestürzt. Auch der Sohn hatte an der Schleppjagd auf der Ostseeinsel teilgenommen.

Große Presse. Viel Bildmaterial.

Gerda, die tief trauernde Witwe („Bernhard war bei bester Gesundheit, wir hatten noch so viele Pläne“). Gerda, auf deren „schmalen Schultern nun eine große Verantwortung für das Unternehmen und seine Mitarbeiter lag“. Gerda Lehnbrinck, eine Frau aber, die auch das „stemmen würde“. Eine willensstarke, eine durchsetzungsfähige Frau. Gern gesehen und entsprechend erwähnt bei offiziellen Empfängen und Charity Events. Über ihre ehrenamtliche Tätigkeit gab es zig Erwähnungen und Berichte. Ihr Engagement galt als vorbildlich.

Philine Clausen legte den Kopf in den Nacken, rollte die Schultern, reckte und streckte sich. Die Anspannung wich.

Sie gab sich noch eine halbe Stunde, dann würde auch sie Feierabend machen. Sie hatte noch etliche private Telefonate zu erledigen.

Erneut machte sie sich an die Arbeit.

Die Charity-Frau.

Philine klickte weitere Seiten an. Klatsch und Tratsch aus frühen Jahren. Nichts Bemerkenswertes. Schließlich aber stieß sie dann doch noch auf eine aufschlussreiche Passage. Es ging um Phobien, um die Phobie vor Vögeln: „ …unsere Mutter hatte die sieben Ängste und Ekel, berichtet auch die Hamburger Reedersgattin Gerda L. Sie vermittelte uns Kindern, dass Flugtiere eklig sind. Das ist geblieben. Ich habe bis heute eine panische Angst vor allem was fliegt und flattert. Muss mitunter die Straßenseite wechseln oder mich in einen Hauseingang flüchten ...“

Angst. Panische Angst vor Faltern und Vögeln.

Vor Tauben und Raben. Vor Krähen… Philine Clausen schloss die Augen, rief sich den Tatort in Erinnerung, das Fleet.

Gesche atmete tief durch. Doch der Schreck saß ihr noch in den Gliedern. Dieser Mann im Bus, der sie so forschend gemustert hatte. So durchdringend. Polizei! Er war Polizist. Wie von Röntgenstrahlen durchleuchtet hatte sie sich gefühlt. Entdeckt. Enttarnt und überführt. Es gelang ihr nicht, sich einzureden, dass seine Anwesenheit im Bus ein Zufall war. Nichts war zufällig. Das wusste sie nur zu gut. Ihr war zum Heulen zumute.

Gesche beschleunigte ihre Schritte. Sie musste weiter. Weitermachen. Man erwartete sie. Man rechnete mit ihr. Mit ihrer Hilfe. Sie durfte nicht enttäuschen. Weit ausschreitend umklammerte sie fest das kleine Häkeltäschchen mit den Insulin-Ampullen.

… und das Gesicht, dieses ihm so vertraute Gesicht war über ihm, ganz dicht an seinem, und er vernahm eine ihm drohende Stimme, nicht vergreifen solle er sich, sich nicht vergehen an ihr, sich nicht versündigen, denn die Rache sei fürchterlich, und finster wurde der Himmel, ein finsteres Loch, und er stürzte tief und immer tiefer und er schlug um sich … Er schreckte hoch. Er war schweißgebadet. Seine Stirn glühte. Er schluckte trocken.

Das Fenster stand weit offen. Er konnte sich nicht erinnern, beide Flügel geöffnet zu haben. Er rieb sich über das Gesicht, schwang die Beine aus dem Bett und … und da hörte er es. Es war ein Wispern. Ein unheimliches Wispern.

Wie erstarrt blieb er sitzen. Lauschte. Und plötzlich wurde ihm kalt, eiskalt. Ihm stockte der Atem. Denn was er von da draußen vernahm, war ...