Ein Porträt des Pianisten Leon Gurvitch, der aus Minsk nach Hamburg kam.

Hamburg. Drei, vier Tage, dachte er, würde er bleiben müssen auf diesem Schiff, dann würden sie etwas finden für ihn. Die „Bibi Altona“ bot einen schönen Blick auf die Elbe, aber das Leben dort war der Horror. Elend, Messerstechereien, Kinder, die eines Nachts alle Schuhe, derer sie habhaft werden konnten, in den Fluss warfen. Auch seine, einfach so. Und als er sich beschweren wollte bei den Eltern, weil er jetzt keine Schuhe mehr hatte, konnte er von Glück sagen, dass die gerade nicht da waren. „Der Vater hätte wahrscheinlich sofort zum Messer gegriffen und mir die Kehle durchgeschnitten“, erzählt Leon Gurvitch schaudernd.

Im August 2001 war der zart gebaute Jung-Pianist aus Minsk, damals 22, mit einer Reisetasche und 200 Mark nach Hamburg gekommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Vorher hatte er schon häufiger in Deutschland gastiert. In seinem Notizbuch standen ein paar Telefonnummern von Leuten, die er dabei kennengelernt hatte. Die wurden nun, da er sie anrief, sehr einsilbig. Also lebte er nicht drei, vier Tage, sondern vier Monate auf engstem Raum mit seiner Mutter auf der „Bibi Altona“, einem der beiden Asylantenschiffe, die damals auf der Elbe vor Anker lagen. Ohne Klavier, natürlich, ohne Möglichkeit zu üben. „Dann habe ich Krach geschlagen, und schließlich wies man uns einen Platz in einem Wohnheim im Neugraben zu.“

Aber wie das so ist mit menschlich schwierigen Zeiten: Die künstlerische Ausbeute daraus ist manchmal ziemlich reich. Wenn Leon Gurvitch am morgigen Mittwoch als einer der Solisten des exzellent besetzten Klavierabends „Sounds No Walls“ im Nochtspeicher Musik seines gerade erschienenen Soloalbums „Remember Me“ spielt, ist vermutlich auch manches Stück dabei, das er in den ersten, verqueren Hamburger Wochen und Monaten komponiert hat.

Auf der verzweifelten Suche nach einem Klavier führten ihn seine Wege damals bis ins Konservatorium Blankenese. „Die haben mich mit einem ihrer russischen Studenten verwechselt und ließen mich üben“, sagt er. „So ging mir meine Technik nicht verloren. Das bereitete mir damals die größte Sorge.“ Gurvitch hatte in Minsk Klavier und Dirigieren studiert und öffnete sich früh auch für Jazz und Improvisation. Als er sich dann in Hamburg einigermaßen zurechtfand, studierte er an der Hochschule noch zwei Jahre lang Jazz. „Ich habe mich immer gesucht, aber dort habe ich mich nicht gefunden“, sagt er. „Ich fühle mich nicht als Jazzer.“

In Leon Gurvitchs stets von einem virtuosen Drive durchpulsten Musik fließt vieles zusammen – Chopin, Satie, Klezmer, die hohe russische Schule der Klavierkunst und ein rhapsodisch erzählender Jazz, der seine osteuropäische Herkunft keinen Takt lang verleugnet. Auf „Remember Me“ spielt er bei ein paar Stücken auch Melodika, und wer es bis dahin noch nicht bemerkt haben sollte, spürt spätestens hier, dass „alle meine Stücke aus dem Herzen kommen. Der Kopf analysiert erst hinterher.“

In aller Bescheidenheit strebt Leon Gurvitch in seiner Kunst nach jener Universalität, wie er sie etwa in seinem weißrussischen Landsmann Marc Chagall verwirklicht sieht. „Der hat auch immer wieder seine Heimat um Witebsk gemalt, aber seine Malerei spricht zu den Menschen überall auf der Welt. Ich kann meine Kindheit in Minsk, meine ersten 22 Lebensjahre, nicht wegradieren. Vielleicht hört man in meiner Musik eine Sehnsucht nach der Heimat. Aber das ist eher eine seelische Sehnsucht. Dort leben möchte ich bestimmt nicht mehr.“

Heute, 13 Jahre nach seiner Übersiedlung, hat Leon Gurvitch sich im Hamburger Musikleben in einer Nische eingerichtet, die er sich selbst in geduldiger Kleinarbeit ausgehöhlt hat. Er unterrichtet am Brahms-Konservatorium Klavier, leitet das dortige Orchester, zettelt Konzertreihen an wie die mit der Jazzwerkstatt Berlin im vergangenen Jahr in der Talmud-Tora-Schule. Er dirigiert auch, kürzlich etwa den „Sommernachtstraum“ von Mendelssohn als Einspringer mit minimaler Vorbereitungszeit. Sporadisch tritt er mit seinem Leon Gurvitch Project auf und spielt in anderen Formationen. Im Jahr, schätzt er, komm er gut und gern auf 50 Konzerte. 250 Kompositionen hat er bei der Gema angemeldet – Lieder, Solostücke, Kammermusik, Chor- und Orchesterwerke.

Seine Komponierstube in der Dreizimmerwohnung am Hansaplatz in St. Georg ist zugleich das Wohnzimmer. Auf einer Fotowand, Bild für Bild schön gerahmt, ist Gurvitch mit berühmten Musikern zu sehen. In einem Schrank hinter Glastüren bewahrt er bunt bemalte Porzellanfiguren aus aller Welt auf, die Musiker bei der Arbeit zeigen. Und Notenstapel, wohin das Auge blickt.„Heute komponiere ich viel weniger“, erzählt Gurvitch, „die Anfangszeit war fruchtbarer.“ Zwei Jahre nach der Übersiedlung holte er seine Frau aus Minsk nach Hamburg hinterher. „Die ganze Zeit über hatten wir nur Briefkontakt“, erinnert er sich. Mittlerweile ist das Paar zur Familie gewachsen, die zwei Söhne sind sechs und neun Jahre alt. Längst fühlt Leon Gurvitch sich zu Hause in Hamburg, „auch wenn ich spüre, dass das hier nicht meine letzte Station sein wird“.

„Sounds No Walls“, Nochtspeicher, Mi, 30.4., 20 Uhr, 25 Euro