Der Autor Sven Böttcher erkrankte schwer und beschloss, ein Buch nur für seine Töchter zu schreiben – für den Fall, dass er „mal nicht mehr da ist“. Mittlerweile geht es ihm besser. Das Buch landete auf der Bestsellerliste

Das zum Arbeitsraum umfunktionierte Wohnzimmer ist geräumig, zwei Tische, eine Bank, Stühle. Außerdem ein kleiner Kamin, in den Sven Böttcher dann und wann Holz nachlegt. Ein aufgeklappter Laptop, Fotos von Frau und Kindern; eine Gitarre, die an der Wand lehnt. Und Kisten voller Bücher.

Es sind ungelesene Bücher, eingeschweißt: Böttchers in den vergangenen Jahrzehnten erschienene Thriller und Spannungsromane, die „Prophezeiung“ oder „Götterdämmerung“ heißen. Als Autor bekommt man immer selbst ein paar Stapel der eigenen Bücher. Böttchers Werke verkauften sich ganz gut, aber auf die Bestsellerliste schafften sie es nicht. Dorthin schaffte es sein jüngstes Werk mit dem Titel „Quintessenzen. Überlebenskunst für Anfänger“. Das schmale Buch ist in vielerlei Hinsicht der unwahrscheinlichste Verkaufsschlager, den man sich denken kann.

Denn die „Quintessenzen“ sollten eigentlich nur in einer Auflage von drei Exemplaren erscheinen, je eines für Lisa, Emma und Katharina. „Ich wollte“, sagt Böttcher, „nur für meine Töchter alles Wesentliche über das Leben, das Universum und den ganzen Rest aufschreiben.“ Und zwar für den Fall, dass er schon bald, wie Böttcher sagt, „unentschuldigt“ fehlen sollte.

Böttcher war damals, 2007, todkrank: Die Ärzte sagten ihm, der nächste MS-Schub könnte der letzte sein. Es sah schlecht aus für den gebürtigen Buchholzer. Und deswegen fing er an zu arbeiten, unter Hochdruck. Irgendwie. Denn durch seine Erkrankung an Multipler Sklerose, die knapp zwei Jahre vorher diagnostiziert worden war, konnte er nicht mehr schreiben, neben den Füßen waren auch die Hände gelähmt. Innerhalb kürzester Zeit hatte die Krankheit ihm seine Existenzgrundlage entzogen. Böttcher verdiente vorher sein Geld als Schriftsteller, Drehbuchautor und Übersetzer, er war ein kreativer Kopf und Freiberufler. Finanziell war er jetzt ruiniert, die Familie musste ihr Haus verkaufen. „Das war ein Totalverlust aller Perspektiven“, sagt Böttcher. Außer der einen: den Töchtern etwas zu hinterlassen.

Wenn man von Sven Böttcher und seinem Buch erzählt, dann erzählt man von der Liebe eines Vaters zu seinen Kindern, man erzählt von einer kleinen Textsammlung, die dem großen Bedürfnis nach Fürsorge entspringt.

Ein Buch für den Fall, dass er „mal nicht mehr da ist“.

Das Foto, auf dem die Mädchen, geboren 1993, 2000 und 2002, in seiner Schreibstube zu sehen sind, ist schon älter. Es stammt wahrscheinlich aus der Zeit, bevor das Schicksal zuschlug im Leben des heute 49-Jährigen. Sven Böttcher wuchs in Harburg, auf der Uhlenhorst und in Winterhude auf. Der Vater war Wirtschaftsprüfer, er sah es gerne, dass Böttcher zunächst BWL studierte. Aber Böttcher schrieb lieber; er wollte mit Worten arbeiten, mit der Sprache sein Geld verdienen. Seine Arbeit in Werbeagenturen erlaubte ihm, wie er sagt, „dass ich mit dem Studium gar nicht unbedingt weitermachen musste“. Das könnte man eine freundliche Umschreibung für den Abbruch der Uni-Karriere nennen, aber bei Sven Böttcher war es die richtige Entscheidung. Er wurde erfolgreich in dem, was er tat, arbeitete für ARD und Sat.1, schrieb Bücher.

Bis, scheinbar ohne Vorankündigung, der Körper nicht mehr mitmachte. „Es mag für viele esoterisch klingen, aber ich denke, dass meine Krankheit mir gezeigt hat, wie überfordert ich mit vielem war“, sagt Böttcher. Der Job mit wechselnden Auftraggebern, die Patchworkfamilie, es sei nicht immer alles einfach gewesen, „man muss da aber kein Drama draus machen“.

Das sagt er wirklich so, dabei hat er doch den Tod schon im Rückspiegel gesehen. Er ist ein Mann im besten Alter, der sehr schlank ist, athletisch wirkt, motorisch nicht eingeschränkt, also – gesund. Er ist das jedoch nicht, jedenfalls nicht vollständig. Und trotzdem ist Böttcher entgegen der Erwartung der Schulmediziner seit 2009 wieder halbwegs hergestellt, wenn man das so sagen kann.

In seinen „Quintessenzen“ gibt er seinen Lesern ein paar Denkanstöße, was ein gelungenes Leben angeht. Es geht um Liebe, Freundschaft, um die richtige Lebenseinstellung, um Gesundheit und um grundsätzliche Beobachtungen. Dass es jeden Menschen zum Beispiel vor allem darum geht, wahrgenommen zu werden. Und dass sich Selbstmitleid nicht lohnt, weil es einem selbst immer doch besser geht als so vielen anderen Menschen.

Die Frage nach dem „warum ich?“ mag Böttcher nicht stellen, „und wenn ich es täte, dann müsste ich ja auch fragen, warum ausgerechnet ich so coole Töchter habe“. Böttcher wirkt bei allem, was er sagt, sehr zurückhaltend. Er spricht mit leiser Stimme, und er wähnt sich nicht im Besitz der absoluten Wahrheit. Ein typisches, für den Buchmarkt konfektioniertes „So werde ich glücklich“-Anleitungsbuch wollte er jedenfalls nicht schreiben. Und er will auch nicht immer unbedingt über seine Methode reden, mit der Krankheit MS umzugehen, obwohl er eben noch am Laptop saß und an seinem Text tippte, in dem er genau die beschreibt.

Den Text will er die Betroffenen lesen lassen, kostenfrei und im Internet, die „Quintessenzen“ sind da schon abrufbar. Es scheint eine durchaus edle Haltung Böttchers zu sein, mit seinem Schicksal nicht zwangsläufig Geld verdienen zu wollen. Für seine Familie kann er mittlerweile wieder sorgen, zuletzt war er am Drehbuch für die Fernsehserie „Der letzte Bulle“ beteiligt. Man kann mit ihm über die Probleme des deutschen Fernsehens diskutieren, gute Skripts zu schreiben in diesem Goldenen Zeitalter der TV-Serien, das in Amerika, England oder Skandinavien derzeit zu bestaunen ist. Oder über Fußball, Sven Böttcher ist Bayern-Fan. Manchmal findet er deren Von-Rekord-zu-Rekord-Eilen langweilig, dafür drückt er dem HSV die Daumen. Es sei denn, dessen Klassenerhalt würde den gleichzeitigen Abstieg Werder Bremens bedeuten, „meine Frau ist Werder-Fan, das wäre nicht gut für den Haussegen“.

Böttcher ist nah dran an der Normalexistenz, wenn er so redet. Das kann ja auch gar nicht anders sein, Angst wäre ein schlechter Begleiter, wenn sie permanent da ist. Und doch war er zuletzt einige Tage nicht in seinem Arbeitszimmer; er lebt in Rosengarten, wenn er sich schlecht fühlt, er schafft es dann nicht nach Buchholz. Dort an der Wand hängt ein Filmplakat, auf dem auf Englisch ein Slogan steht: „Angst kann dich gefangen halten. Hoffnung dich befreien.“ Draußen, beim Rauchen auf der Veranda, fällt ihm ein, dass Rauchen Menschen mit seiner Diagnose eher nicht zu empfehlen sei. Und dann erzählt er von der Gymnastik, die er jeden Morgen macht, dem Tennisplatz, den er im Sommer ansteuert, „und trotzdem ist meine Geschichte nicht die eines Mannes, der es aus dem Rollstuhl zum Tennis-Champion schaffte“.

Nein, es ist komplizierter, und natürlich ist Böttcher, der sich durch seine Krankheit besser kennenlernte und für den vielleicht auch sein Buch ein bisschen Therapie war, das Beispiel eines Menschen, der mit einem Mal eine Ahnung von der Endlichkeit des eigenen Lebens bekam. In den „Quintessenzen“, die derzeit so viele lesen, obwohl sie ursprünglich nur für die Kinder bestimmt waren, schreibt Böttcher Sätze wie den hier: „Ohne Frage bist du der Star deines eigenen Lebens, denn dein Leben ist alles, was du hast, die einzige Story, die du erzählst.“ Er kennt sich aus mit Erzählen, dem auf Papier und dem mündlichen, und auch wenn er ziemlich ironisch die Egozentrik des Menschen beschreibt, der sich immer für den Nabel der Welt hält, ist wohl klar, dass man sich selbst wichtig nehmen muss, ob mit Schicksalsschlägen oder ohne.

Und es ist nie zu spät, mit etwas Neuem zu beginnen. Vor Kurzem wollte Böttcher, der den Sommer lieber mag als den Winter, Surfen lernen, zusammen mit seiner Tochter. Anders als die lag er aber ständig im Wasser, berichtet Böttcher und lacht. Seine Erfolgserlebnisse sind andere, da ist zum Beispiel die alte Dame, die ihm schreibt. Es schreiben ihm viele, seit die „Quintessenzen“ zu lesen sind, aber dieser eine Brief hat ihm besonders gefallen. Er kam von dieser 82-Jährigen, sie bedankte sich für sein Buch und schickte ihm eine CD von Fritz Wunderlich und überklebte auf deren Hülle alle Titel bis auf den einen, den sie immer während ihrer Chemotherapie gehört hatte.

Böttcher gefällt so etwas. Er freut sich darüber, wenn seine Erfahrungen andere inspirieren oder ihnen zumindest nachdenkenswert erscheinen. Es ist schwer, genau zu wissen, woran man bei einem Menschen ist, wenn man das unter Umständen noch nicht einmal bei sich selbst weiß – bei Böttcher hat man jedoch tatsächlich den Eindruck, dass da einer sich so weit geordnet hat, dass er manche Vorkommnisse, die ungeheuerlich anmuten, lässig beiseitewischen kann. Wie die von dem Bekannten seiner Frau, der ihr riet, sich doch von dem kranken Mann zu trennen, der bald ein Pflegefall sein könnte.

Was für ein komischer Vorschlag, wo seine Frau ihn doch liebt. Da muss man aber nicht weiter drüber grübeln, findet er, eine unschöne Episode, genauso wie die mit den Auftraggebern in den Sendern, die ihn nach seiner Erkrankung schnell abschrieben. „So ist das halt, auch die anderen brauchen Planungssicherheit“, sagt Böttcher und zuckt mit den Achseln.

Und doch erzählt er davon, weil man über Dinge, die einmal geschmerzt haben, nicht einfach hinweggehen kann.

Was seine Töchter ihm bedeuten? Alles, ganz sicher, den Job als Vater, erklärt Böttcher, „den mache ich, so gut es geht“. Und er bemüht sich redlich, was man an dem sehr persönlichen Buch sieht, das er sich abrang mit einem Redaktionsschluss vor Augen, einem zu befürchtendem Fristablauf, dem man im Englischen Deadline nennt. Die erste Version war Ende 2008 fertig. Danach hat Böttcher immer wieder an den Texten gefeilt. Er hatte die Zeit dazu. Weil er am Leben blieb. Drei Exemplare band er selbst, und dann fragten ihn die Freunde, die über eine private Website am Entstehungsprozess beteiligt waren, ob sie auch eines haben könnten – und für ihre Kinder noch eines mit. Schwierig, Dutzende Exemplare selbst herzustellen. Böttcher entschied sich für eine Veröffentlichung. Er wandte sich an die Verlage, mit denen er schon zusammengearbeitet hatte. Man glaubte dort allerdings nicht an einen Erfolg auf dem Buchmarkt. Also ging Böttcher zu einem kleinen Verlag.

Die älteste Tochter Lisa hat „Quintessenzen“ in einer früheren Version 2011 wie vereinbart zu ihrem 18. Geburtstag bekommen.

Von ihrem Vater. Persönlich.