Hamburger Autorinnen und Autoren schreiben exklusiv im Abendblatt einen Fortsetzungskrimi. Immer donnerstags erscheint eine der insgesamt acht Folgen. Heute: Teil drei von Regula Venske.

Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus…“

Er ergriff die Fernbedienung und stellte die Musik lauter. Von allen Sängern und Sängerinnen, die sich an Franz Schuberts „Winterreise“ versucht hatten, hörte er Jorma Hynninen am liebsten. Die zarte und doch männlich kräftige Stimme des Finnen berührte seine Seele in einer Weise, dass er die Angst vor dem Tod vergaß. Und wenn auch nur für die kurze Zeitspanne, während die Musik spielte.

„Die Liebe liebt das Wandern, Gott hat sie so gemacht, von einem zu dem andern, Gott hat sie …“

Jochen Kettels drückte die Stopptaste und spulte vor zur Nummer 15. „Eine Krähe war mit mir aus der Stadt gezogen …“ Schwer atmend kauerte er neben dem Sofa und lauschte. Lauschte und dachte, jetzt müsse er sterben. Lauschte und wusste, er lebte. Noch.

„Nun, es wird nicht weit mehr gehn an dem Wanderstabe. Krähe, lass mich endlich sehn Treue bis zum … Grabe!“ Das letzte Wort stieß Jochen Kettels so laut aus, dass er die Musik nicht mehr hörte. Wiederum hielt er die CD an, drückte die 15 erneut. Zwar liebte er auch die nachfolgenden Lieder, „Letzte Hoffnung“, „Täuschung“, „Die Nebensonnen“. Aber sie galten nicht mehr. Jetzt war die Zeit der Krähe gekommen.

Zwischendurch schossen ihm Wortfetzen durch den Kopf: Irina ist tot. Wie überaus seltsam! Absurd! Ausgerechnet Irina, diese junge, vor Leben strotzende Frau. Seine Irina. Seine junge, vor Leben strotzende Frau. Sie war 28 Jahre jünger als er gewesen und Nichtraucherin. Es war die falsche Reihenfolge. Als nächster war doch er dran! Aber er war wider Erwarten noch hier. Hatte noch Luft zum Atmen. Wenngleich nicht mehr viel Luft. Seine Tage waren gezählt. Seine Atemzüge waren gezählt. Aber noch musste er aushalten. Musste einen Sarg für Irina wählen oder eine Urne und Entscheidungen treffen. Aber vielleicht war es auch nicht falsch. Vielleicht war es richtig. Gerecht. Ob Gerechtigkeit am Ende immer absurd war?

Jochen Kettels wusste es nicht. Er wusste auch nicht, wie oft er die 15 gedrückt und wie lange er in seiner unbequemen Stellung ausgeharrt hatte. Seine Beine waren eingeschlafen, die Stimmbänder wund geschrien. Hatte es an der Haustür geklingelt? Schon möglich. Ja, allmählich kam es ihm so vor, als ob sich seit geraumer Zeit ein paar störende Geräusche in die Musik mischten. Im nächsten Moment fand er sich in der Gegenwart wieder. Vor seiner Terrassentür standen dunkle Schatten, sie trugen Polizeihelme und hatten Schusswaffen auf ihn gerichtet. Jochen Kettels hielt die Fernbedienung in Richtung Terrasse, als könne er das störende Bild ausschalten, das sich dort bot. „Sie haben keine Chance“, hörte er es von draußen quäken. „Das Haus ist umstellt. Werfen Sie die Waffe fort und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“

Jochen Kettels drückte auf Play.

„Geht es Ihnen besser?“

Gesche blickte in freundliche Augen. Eine Frau beugte sich über sie und berührte sie an der Schulter. Hinter ihr war der Kopf eines Mannes zu sehen, der seltsam auf und ab wippte.

„Haben Sie ein Handy dabei? Zum Joggen nehmen wir keins mit. Sonst hätten wir schon die Polizei gerufen.“

Die beiden trugen giftgrüne Joggingklamotten im Partnerlook, der junge Mann trippelte auf der Stelle. Er war schweißüberströmt.

„Mein Freund hat noch versucht, diesem … Typen nachzulaufen, aber der hat ihn ausgetrickst. Er hat Ihnen doch nichts getan?“

Gesche tastete mit der Hand nach ihrer Stirn und richtete sich langsam auf. „Danke. Alles okay.“

„Wir sind gerade im richtigen Moment vorbeigekommen. Der beugte sich über Sie und – oh, Gott!“ Die junge Frau blickte sich suchend um. „Hatten Sie etwa eine Handtasche dabei?“

„Nein. Danke.“ Gesche stand auf, die andere half ihr.

„Sind Sie sicher, dass er Ihnen nichts geklaut hat? Sie sollten das trotzdem der Polizei melden. Das war ein versuchter Überfall, und dieser Typ sah haargenau so aus wie dieser Killer, der zurzeit gesucht wird, dieser Vogelmann.“

„Braun, sie war braun“, sagte ihr Freund. Offenbar konnte er doch sprechen.

„Was meinst du, Schatzi?“

„Diese Pelerine oder wie man das nennt“, sagte der Mann. „In der Zeitung stand, sie sei schwarz. Aber dieser Typ hatte einen braunen Umhang. Ich meine, wenn Sie das melden, das könnte wichtig sein.“

„Ja, danke.“ Die Farbe des Umhangs war das Letzte, was Gesche im Moment interessierte. Sie überlegte, wie sie die beiden höflich loswerden könnte. Die Ungeduld des Mannes kam ihr zu Hilfe. „Ich muss weiter, sonst verkühl’ ich mich.“

Er verstärkte sein Trippeln. „Wenn Sie unsere Zeugenaussagen brauchen, finden Sie mich im Internet. Jo Hausmann, Marathon-Coaching.“

Der Frau fiel es schwerer, Gesche alleinzulassen. „Sind Sie sicher …?“

Gesche versuchte ein Lächeln und hob die rechte Hand leicht zum Gruß. Sie sah den beiden nach, wie sie durch den Park davontrabten. Als sie die Hand in ihre Manteltasche steckte, erstarrte sie.

Verdammt, das war knapp! Dieser grüne Laubfrosch war ganz schön schnell gewesen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn der Bursche ihn geschnappt hätte! Beim nächsten Mal musste er vorsichtiger sein. Mirko Blatter stopfte den nach Mottenpulver duftenden Umhang in eine Mülltonne und schnallte sich die Rollschuhe ab. Pfandleihstücke, die nicht abgeholt und versteigert worden waren. Ob es irgendwo jemanden gab, der sich an sie erinnerte, sie gar vermisste? Die Rollschuhe waren von der altmodischen Sorte, zum Unterschrauben, und hatten hässliche Druckstellen auf seinen Lederschuhen hinterlassen. Blatter, der diesen Anblick noch aus seiner Jugend kannte, wurde von einem beinahe zärtlichen Gefühl ergriffen. Er wunderte sich über sich selbst. Aber dann fiel ihm die Frau wieder ein. Florentine. Er hatte sie nicht erschrecken wollen. Wie sollte er auch ahnen, dass sie so schreckhaft war? Sie hatte etwas Verlorenes an sich gehabt, als sie vor seinem Schalter gestanden hatte. Aber auch etwas Zähes. Und es war ein Glanz in ihren Augen gewesen, nach dem er sich seitdem heftig sehnte.

Viele gingen bei ihm im Pfandleihhaus aus und ein. Es war wie im Leben, die Leute kamen und gingen. Diese Florentine aber war, seitdem er sie gesehen hatte, in seinem Herzen geblieben. Ob sie eine Ahnung hatte, wer er war, und sein Kostüm durchschaute? Es galt, auf der Hut zu sein. Es war ja nicht direkt böse, was er tat, im Gegenteil, es war sogar gut. Aber legal war es nicht. Und Monika würde auch nicht begeistert sein, wenn sie es je erführe. „Mein Mann verschenkt Schmuck an wildfremde Frauen …“

Der Gedanke hatte sich im vorigen Jahr in ihm festgesetzt, und jetzt, wo er auf den Geschmack gekommen war, wollte er nicht mehr aufhören mit dem, was er tat. Es ging schließlich nicht um Florentine, es ging um die guten Werke. Na ja, wenn er ehrlich war, ein wenig ging es auch um Florentine. Er hatte ein paar besonders hübsche Stücke für sie ausgewählt. Schmuck, der zu ihren Augen passte. Schmuck, der ihm nicht gehörte.

Auf dem Heimweg vermied Gesche jeden Blick in Fensterscheiben. Erst zu Hause schaute sie in den Spiegel. Die Beule an der Stirn hatte sich zu einem kleinen Horn ausgewachsen. Aber außer ein paar Schrammen hatte sie keine weiteren Blessuren erlitten. Hatte der Kerl sie gestoßen oder geschubst? Sie konnte sich nicht erinnern. Ihr war schwarz vor Augen geworden, und sie war in Ohnmacht gefallen. Vor Angst, dachte sie. Ich bin vor Angst in Ohnmacht gefallen. Das … der … Mann wollte nichts Böses. Im Gegenteil, eine freundliche Stimme klang noch in Ihrem Ohr. „So viel du brauchst …“

Was war das für ein Bote gewesen?

In ihrer Manteltasche brannte das Päckchen, das er hineingesteckt hatte. Wer sonst außer ihm hätte Gelegenheit dazu gehabt?

Gesche zog das Päckchen hervor. Ein kleiner Stoffbeutel, eingewickelt in Zeitungspapier. Ihr Herz klopfte heftig, als sie den Beutel öffnete und den Schmuck herausnahm. Ein Kettchen mit einem hellblauen Anhänger, dazu passende Ohrringe in Tropfenform. War das Aquamarin? Gesche kannte die Stücke nicht, sie hatten keinem ihrer Schützlinge gehört. Was wollte der Mann von ihr? Sie legte Kette und Ohrringe auf ihren Nachttisch und strich das Zeitungspapier glatt. Ein Zettel fiel heraus, auf dem ein paar Worte standen. Die Schrift war hässlich und unleserlich, aber mithilfe der Versangabe und der alten Bibel, die noch von ihrer Großmutter stammte, gelang es ihr, sie zu entziffern:

„Und die Raben brachten ihm Brot und Fleisch des Morgens und des Abends, und er trank aus dem Bach.“ (1.Könige 17, 6)

Behutsam faltete Gesche den Zettel zusammen und legte ihn in die Bibel. Ein Lesezeichen. Ein Zeichen. Ein Wunder. Sie ging ins Bad und tränkte einen Waschlappen mit kaltem Wasser. Lange presste sie den Lappen gegen die Schläfe und starrte ihr Spiegelbild an. „Hellblaue Augen, wie Aquamarin“, hatte ihr Vater immer gesagt. Sie hätte nicht sagen können, ob es Wasser war, was da über ihre Wangen rann, oder aber Tränen.

Er klappte das Visier herunter und startete die Maschine. Das satte Geräusch, wenn er den Motor auf Touren brachte, gab ihm jedes Mal einen Kick. Es war gut, ein armer Dichter zu sein, der inkognito in der Ackermannstraße wohnte. Noch besser aber war es, ein armer Dichter auf einer gebrauchten Ducati zu sein, der jetzt zu seiner Villa an der Elbchaussee brauste. Dieses alte Bike war teurer als ein neues gewesen, aber das wusste keiner dieser armen Poeten. Keine Viertelstunde später stand es ordentlich in der Garage geparkt, und er fläzte sich schon aufs Sofa. Mein Gott, der Geruch in diesem Haus! Am besten war es, die Lehnbrinck´sche Villa komplett abzureißen. Dann würde es nur noch im Himmel nach den alten Herrschaften muffeln. Weil sein alter Herr auf einer Wolke Havannas paffte, während er sein Geld zählte, und seine Mutter den Englein Chanel No. 5 unter die Flügel sprühte. Aber egal, er war frei.

Sogar so frei, die Haustür zu öffnen, wenn es klingelte.

„Konstantin, alter Gauner. Pünktlich auf die Minute.“

„Servus, Claudi. Nimm die Ray Ban ab, wenn ich mit dir rede.“

„Wenn du mich noch einmal Claudi nennst, fliegst du raus.“

„Alles klar, Claudi-i-us.“ Sein Gegenüber grinste.

Claudius Lehnbrinck machte keine Anstalten, den anderen ins Haus zu bitten. „Schieß los, was willst du?“

„Wie ich schon am Telefon sagte, mit dir reden. Jetzt, wo Tante Gerda tot ist …“

„Der Tod meiner Mutter ändert nichts an unserer Abmachung.“

„Aber meine Provisionen …“

„Steck sie dir sonst wohin. Wenn du gedacht hast, aus dem Tod meiner Mutter Profit zu schlagen, bist du auf dem Holzweg. Nicht du erbst die Reederei, sondern ich. Führ schön brav die Geschäfte in meinem Namen weiter und sei froh, wenn ich dein Gehalt nicht kürze. Schließlich musst du jetzt nicht mehr die Klappe halten. Und dafür hab ich dich vor allem bezahlt.“

„Oh ja, ich vergaß, der große Dichter.“ Konstantin hatte plötzlich eine Pistole in der Hand.

Claudius zuckte nicht mit der Wimper. „Lass den Quatsch! Wenn du mich erschießt, bist du arbeitslos. Und als mein Cousin erbst du gar nichts.“

Er machte einen Schritt auf den anderen zu und streckte die Hand nach der Waffe aus. Als sich der Schuss löste, guckten beide verwundert.