„Polizeiruf 110“-Kommissarin Anneke Kim Sarnau spielt die Hauptrolle in dem Gesellschaftsdrama „Keine Zeit für Träume“ über kindliche Störungen

ADHS gilt als die häufigste Verhaltensstörung bei Kindern. Hinter den vier Buchstaben verbirgt sich das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Schon der Frankfurter Arzt Hans Hoffmann beschrieb im „Struwwelpeter“ Mitte des 19. Jahrhunderts diese Form der Störung in seinen Figuren Zappel-Philipp und Hans Guck-in-die-Luft. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigt sich die Wissenschaft mit diesem Phänomen, inzwischen liegen viele Tausende von Arbeiten über ADHS vor. Ein Allheilmittel gibt es jedoch nicht. Wegen der Komplexität dieser Störung versuchen Ärzte, mit individuell auf den Patienten zugeschnittenen Therapien zum Erfolg zu kommen. Geschätzt wird, dass zwei bis sieben Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland Teile des Syndroms aufweisen. ADHS wird seit einigen Jahren als gesellschaftliches Problem wahrgenommen. TV-Regisseurin Christine Hartmann und Drehbuchautorin Regine Bielefeldt haben sich des Themas angenommen und es in den spannenden Familienfilm „Keine Zeit für Träume“ gepackt.

Merle (Grete Bohacek) ist das Problemkind. Die Elfjährige ist ein fröhliches und aufgewecktes Mädchen, doch in der Schule klappt es nicht so richtig. Bei der Mathearbeit schafft sie es nie, alle Aufgaben zu lösen, Schulaufgaben bleiben ungemacht, und Bücher oder das Geodreieck in den Ranzen packen, das vergisst sie auch oft. Klassenlehrer Heinicken rät den Eltern Falk (Anneke Kim Sarnau, Harald Schrott), das Kind auf eine andere Schule zu geben, doch das Architektenehepaar winkt ab. Beide sind gewohnt, Probleme jeglicher Art so zu lösen wie auf ihren Baustellen: pragmatisch. Die Störung ihres Kindes will vor allem der Vater nicht wahrhaben. Mit ein bisschen mehr üben und Nachhilfe wird es schon gehen, Ursachenforschung wird anfangs nicht betrieben. „Merle ist gesund“, sagt Roman Falk.

Kathrin Falk teilt die Einschätzung ihres Mannes nicht so unbesehen und konsultiert den Kinderarzt und eine Psychologin. Die stellen bei Merle ADS fest — das ADHS-Syndrom ohne die Hyperaktivität — und raten zu einem Mix aus Medikamenten und Therapie. Doch die Einnahme von Psychopharmaka lehnen die Eltern strikt ab. Drehbuchautorin Regine Bielefeldt nimmt viele der gängigen Klischees und Vorurteile auf und legt sie ihren Figuren in den Mund. Für Merles Großmutter ist ADS ein Hirngespinst. „Früher gab’s das nicht“, sagt sie. Vater Roman bezeichnet die Tablettenverordnung als „Geldschneiderei der Pharmaindustrie“. Außerdem möchte er Merles Krankheit vor jedermann außerhalb der Familie geheim halten, weil er befürchtet, dass Merle von ihrer Umgebung stigmatisiert werden könnte.

Christine Hartmann inszeniert die Geschichte in sehr ruhigen Einstellungen. Sie zeigt die Falks als eine fast normale Familie, in der die Eltern denken, das sie das Richtige tun. Viertes Familienmitglied ist die 15-jährige Lea (Stella Kunkat), Kathrins Tochter aus einer früheren Beziehung. Die Risse in der Familie zeigen sich zuerst bei ihr, weil sie sich neben ihrer Halbschwester zunehmend vernachlässigt fühlt. Plötzlich dreht sich alles nur noch um Merle, die mit dem zusätzlichen Druck genauso wenig zurechtkommt. Die Spitzen und Sticheleien häufen sich. Mit jedem Tag wächst der Stress. Lea rastet aus, Kathrin klappt zusammen, Roman wünscht sich das „normale“ Leben zurück, Merle laufen die Tränen übers Gesicht, das böse Wort „Schuld“ steht im Raum. Am Ende ist es die kleine Merle, die eine Entscheidung trifft.

„Keine Zeit für Träume“ beginnt unaufgeregt, sodass man sich anfangs fragt, ob das Thema sich überhaupt für ein Fernsehspiel eignet. Doch mit der Zeit wächst die Intensität des Films, so wie auch in der Familie die Probleme wachsen und wachsen. Sarnau und Schrott spielen tadellos, weil sie exakt die ihnen zugeschriebenen Rollen mit den dazu gehörigen Klischees ausfüllen. Besonders Lob gebührt jedoch den beiden jungen Schauspielerinnen Greta Bohacek und Stella Kunkat, die beide ihren Part mit Bravour meistern. Beim Filmfest Emden wurde „Keine Zeit für Träume“ mit zwei Preisen belohnt. Zu Recht, denn Christine Hartmanns Film ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Problem ADS.

„Keine Zeit für Träume“, heute, 20.15 Uhr, ARD