An diesem Wochenende wird der 300. Geburtstag des Komponisten gefeiert, der zu Lebzeiten berühmter war als sein Vater Johann Sebastian Bach

Es war noch nie einfach, einen berühmten Musiker-Namen zu tragen und dennoch dem vernichtenden Zweite-Klasse-Etikett „Mittelmaß“ zu entkommen: Richard Wagners Sohn Siegfried ist tragisch am Überdruck von außen gescheitert. Sean Lennon, Johns Sohn, hat es mit seinen Songs nie auch nur in die Nähe eines Welthits geschafft, Pauls Tochter Stella McCartney ist mit ihrer Kreativität konsequent in die Modebranche abgebogen. Eine faszinierende Ausnahme zu dieser K.-o.-Regel gibt es allerdings, einen Komponisten, der vor zweieinhalb Jahrhunderten, zu seinen Lebzeiten, viel bekannter war als sein Vater, in dessen erdrückendem, übermächtigen Schatten er seit fast zwei Jahrhunderten steht: Bach. Carl Philipp Emanuel Bach allerdings, und da es so viele von diesen Bachs gab, reicht unter Freunden auch das joviale Kürzel CPE als Erkennungsmerkmal.

Vor genau 300 Jahren geboren, bekannt auch als „Hamburger Bach“, vor allem aber als kleineres Licht. Ersteres stimmt (zumindest, wenn man die um fast ein Jahrzehnt längere Berliner Zeit ausblendet), zweites nicht. Zweitältester überlebender Sohn von Johann Sebastian, Bruder von Johann Christian, der in London mit seiner galanten Art groß rauskam, und Wilhelm Friedemann, der tragischerweise nirgendwo richtig Glück hatte. Spross einer Musiker-Dynastie aus sehr vielen Dickköpfen und einigen wenigen Genies, die schon bei CPEs Geburt am 8. März 1714 in Weimar über 160 Jahre Familiengeschichte vorweisen konnte. Stammvater Veit Bach kam um 1550 im thüringischen Wechmar zur Welt. CPE Bach war eine Jahrhundertgestalt, für seine Zeitgenossen ein „Originalgenie“. Für unsere Zeit ist CPE Bach nur noch ein großer Unbekannter mit einem Namen, der viele auf eine falsche Fährte lenkt. Welch ein Irrtum.

Denn CPE Bach ist ein Großmeister des Übergangs, der Virtuose einer gesellschaftlichen Problemzone, die noch nicht weiß, wohin mit sich und ihren erwachenden Gefühlen. Hunderte von Klavierkompositionen, etliche Sinfonien, später auch große, effektsichere Oratorien, viele Pflichtstücke und Terminarbeiten schrieb er. Wenn der Stress zu groß war, griff CPE auch auf Schon-mal-Geschriebenes aus dem eigenen Werkkatalog zurück oder bediente sich bei anderen; damals war dieses Durchpausen überhaupt kein Problem.

Die biografischen Abläufe sind schnell erzählt und wie von der Stange. Jurastudium fürs Renommee, danach aber schnell der Schwenk ins Künstlerische, das erste, jahrzehntelange Engagement als Cembalist in einer Hofkapelle, danach eine gut dotierte Führungsaufgabe als städtischer Musik-Beamter im gehobenen Dienst mit satten Nebenverdienstmöglichkeiten. Doch CPE war, anders als so viele andere, ungemein geschäftstüchtig und lieferte wunschgemäß, von eingängig bis abenteuerlich, ohne deswegen berechenbar zu werden.

Als CPE 1788 im fast biblischen Alter von 74 Jahren starb, hatte der viel jüngere Mozart nur noch drei Jahre zu leben. Haydn, Mozart, Beethoven, die Wiener Klassiker der nächsten Generation, sie alle verdanken dem Hamburger Vorklassiker mehr, als die meisten heutigen Konzertbesucher ahnen, wenn sie CPE-Programme wegen Entbehrlichkeit schwänzen, um Interpretationen zu entgehen, die aus Mangel an Erfahrung den Feinheiten des Notenmaterials oft nicht gerecht werden. Nicht nur das Publikum hätte hier noch eine Menge aufzuholen, auch die Spezialisten kommen an ihren Instrumenten schnell ins Schwitzen, wenn es ums Würdigen dieser Raritäten geht.

Ohne eine dicke Notlüge hätte Hamburg einen epochalen Komponisten weniger im Stammbaum: Die elende Gicht in den Fingern plage ihn, so sehr, dass es trotz des preußischen Pflichtgefühls mit dem untertänigsten Begleiten seiner Majestät einzigartiger Flötenkünste am Cembalo bald ein Ende haben würde, flunkerte Carl Philipp Emanuel Bach seinem langjährigen Dienstherrn Friedrich dem Großen vor. Fürs Komponieren und Dirigieren reiche es gerade noch. Deswegen würde er nun gern dem Ruf nach Hamburg folgen, um als Nachfolger seines verblichenen Patenonkels Georg Philipp Telemann Musikdirektor der musikbegeisterten, prestigesüchtigen Hansestadt zu werden. Manchmal siegt nur Dreistheit bei autoritären und eitlen Chefs, und so konnte 1768 die erfolgreichste Lebensphase dieses Bachs beginnen, in jener Stadt, in der sein Vater Johann Sebastian anno 1701 staunend die berühmte, gerade rekonstruierte Orgel von St. Katharinen bewundert und gespielt, aber 1720 dann doch keinen Kirchenmusiker-Posten angenommen hatte.

Aufgewachsen ist dieser Bach junior mit der Musik und der Geisteshaltung des Barock, aber gereift in einer Zeit des Umbruchs, in der überlieferte Denkmuster fade wurden und nur noch langweilten. Die berühmte Hamburger Gänsemarktoper, erste Adresse im deutschen Barock, hatte 30 Jahre vor CPEs Ankunft in der Kaufmannsstadt dichtmachen müssen, vom Zeitgeist überholt. Das klingt doch wie, das hat doch auch schon, so war es auch bei – diese Einstellung zur Musik und was sie in jedem einzelnen Hörer auslösen sollte, hat sich in CPE Bachs Blütezeit radikal verändert. Kein Wunder, dass er ein so abenteuerlustiger Improvisator auf den Tasten seines geliebten Silbermann-Clavichords war. Er musste sich seine Wege zur musikalischen Empfindsamkeit immer wieder neu finden, ständig anders erfinden. „Die Musik hat höhere Absichten, sie soll nicht das Ohr füllen, sondern das Herz in Bewegung setzen.“

CPE war kein so freier Radikaler wie Beethoven oder Stockhausen, aber dennoch revolutionär, seine Großartigkeiten steckten in den subtilen Details. CPEs Musik irrlichterte zielstrebig zwischen Alt und Neu, zwischen Konvention und Mode, sein Publikum bejubelte ihn dafür und honorierte ihn fürstlich. Für die Drucke seiner Kompositionen hatte Bach eine Kundenliste, die von Russland bis in den Süden Afrikas reichte. „Meine Sonaten gehen ab, wie warme Semmeln bey der Börse auf dem Naschmarkt.“ Er schrieb für ein bürgerliches Publikum, das nun auch selbst singen oder eigenhändig spielen wollte, und nicht mehr für eine höhere Macht wie der Senior. Als Organist sei er bei Weitem nicht so gut wie sein Vater, bekannte er einmal. Halb so wild, er hatte andere Stärken. Wie schon Telemann versorgte Bach das hiesige Musikleben und die Hamburger Gesellschaft mit Impulsen und war mit vielen klugen Köpfen befreundet. Lessing, Klopstock und Matthias Claudius zählten zu CPEs Hamburger Bekanntenkreis, eine logische Fortsetzung seiner Kontakte zu Denkern, die er schon in Potsdam gepflegt hatte; damals war es unter anderem Voltaire gewesen, mit dem er sich austauschte. Und wenn man in der Musikwelt jener Jahre vom „großen Bach“ sprach, dann war überall klar: Johann Sebastian war es nicht.

Dieser Bach ging im späten 18. Jahrhundert seinen eigenen Weg und ließ sich das Anderssein gut bezahlen, das macht ihn als Rollenmodell für heutige Individualisten, Vor- und Querdenker im rundgelutschten Arbeitsalltag des 21. Jahrhunderts so interessant, selbst wenn sie völlig unmusikalisch sein sollten. Er ist einer von uns, wie jeder zeitlose Komponist, trotz der weiß gepuderten Allonge-Perücke über den bis ins Alter schwarzen Haaren und der historischen Distanz, die ihn wie ein Museumsstück wirken lässt.

Schon von prominenten Komponistenkollegen sind deswegen Komplimente für CPE überliefert, die über das damals branchenübliche Bauchpinseln hinausgingen. „Wer mich gründlich kennt, der muss finden, das ich dem Emanuel Bach sehr vieles verdanke“, schrieb Haydn. „Er ist der Vater, wir sind die Bub’n. Wer von uns was Rechts kann, hats von ihm gelernt“, schrieb Mozart und bezog sich damit wohl auf CPEs Pflichtlektüre für jeden damaligen Virtuosen, das auch heute noch nicht veraltete Lehrwerk „Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen“.

Als das Pilgern zu Wagner nach Bayreuth noch längst nicht erfunden war, hatte der immerhin schon 63 Jahre alte, europaweit berühmte Haydn ein bislang unerreichtes Künstlerpech: Auf der Heimreise von Konzerten in London wollte er 1795 in Hamburg das Idol seiner Jugend bewundern. Und musste hier von Bachs Tochter erfahren, dass dieser Sohn eines weitgehend vergessenen Leipziger Thomaskantors schon seit sieben Jahren in einem Grab in der Krypta von St. Michaelis ruhte.