Mit 19 Jahren wurde Sylvette David über Nacht berühmt als Modell des Malers. 60 Jahre später kehrt sie an den Ort der Begegnung nahe der Côte d’Azur zurück. Das Abendblatt war dabei

Es passt nicht zusammen. Lydia Corbett blinzelt; das harte, weiße Winterlicht der Côte d’Azur blendet sie. Die alte Dame steht vor einem Hang, der zu einem Haus hinaufführt. Zwischen den Hügeln in der Ferne ist ein petrolblauer Streifen zu sehen – das Mittelmeer. Corbett hält ein Foto in der Hand. Es zeigt eine blonde junge Frau zwischen zwei Kindern und hinter ihnen einen Herrn mit Pelzmütze. Wo entstand das Bild?

Eines ist sicher: Sie war schon einmal hier. Damals, als sie noch Sylvette David hieß und Pablo Picasso kennenlernte. Der Maler bewohnte das Haus in Vallauris, einem Städtchen im Hinterland von Cannes, von 1948 bis Mitte der 50er-Jahre. Corbetts Blick wandert zwischen der Fassade und dem Bild hin- und her. Während sie murmelnd Stockwerke und Fenster zählt und Himmelsrichtungen bestimmt, zwirbelt sie die beiden dünnen grauen Zöpfe, die ihr Gesicht rahmen.

Für die Öffentlichkeit ist das Anwesen namens La Galloise nicht zugänglich, aber für Corbett kramen die dänischen Besitzer bereitwillig in ihren Erinnerungen, bis das Rätsel gelöst ist und über Corbetts Gesicht ein Strahlen geht: Das Gebäude ist aufgestockt und der Garten neu angelegt worden, seit sie zuletzt dort war.

60 Jahre ist es her, dass ein junges Paar sein Moped die steile Straße hinaufquälte. Das kleine Gefährt transportierte nicht nur Sylvette David und ihren Verlobten Tobias Jellinek, die beiden hatten auch noch zwei Stühle für den Maler dabei. Jellinek hielt die Begegnung fotografisch fest. Für Picasso war diese der Auslöser eines wahren Schaffensrauschs, der Epoche Sylvette, wie die internationale Presse bald ausrief. Für Sylvette David, die 19-Jährige auf dem Foto, sollte es eine märchenhafte Episode werden.

60 Jahre später kehrt sie noch einmal an den Ort dieses Märchens zurück. Sie heißt heute Lydia Corbett, lebt in Südwestengland. Zwischen den Namen und Identitäten wechselt sie so mühelos wie zwischen Englisch mit französischem und Französisch mit englischem Akzent. Während der zwei Tage, die sie auf den Spuren der eigenen Vergangenheit unterwegs ist, nennt jeder sie Sylvette – und sie hört darauf, beantwortet unzählige Fragen, stets guter Dinge, als wäre es nicht anstrengend, sich zu erinnern.

Zwischen April und Juni 1954 hat Picasso Sylvette mehr als 60 Mal porträtiert. Er experimentierte dabei mit vielen verschiedenen Stilen und Techniken, schuf Gemälde und Zeichnungen, Metallskulpturen und Keramiken von naturalistisch bis kubistisch und arbeitete zum ersten Mal mit gebogenen Metallflächen. 1955 erwarb die Kunsthalle Bremen eines der Porträts. Auf dem kubistisch angehauchten, in Grautönen gehaltenen Ölgemälde hat sich die junge Frau das üppige blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden. Nun gruppiert die Kunsthalle um das Bild herum die Ausstellung „Sylvette, Sylvette, Sylvette. Picasso und das Modell“.

Die bewussten Stühle hatte Tobias Jellinek gebaut; er war Bildhauer und Designer. Picasso fand sie bei einer Ausstellung in der Töpferwerkstatt Madoura im Herzen von Vallauris, wo er die Keramik für sich entdeckt hatte und wo er regelmäßig mit Ton arbeitete. Der Raum, dessen niedrige Decken und Wände aus Naturstein eher an ein Bauernhaus der Region erinnern, dient auch heute für Ausstellungen. Durch die kleinen Fenster fällt nur wenig Licht. Vor einer Keramik von Picasso berührt eine zarte Gestalt Sylvette am Ellenbogen. „Du bist es“, ruft Jacotte Capron, „ich erkenne dich auch nach 60 Jahren noch!“ Wie die beiden einander umarmen, das hat etwas Urvertrautes.

Caprons späterer Mann Roger arbeitete damals als Keramikkünstler in Vallauris. „Als ich dich zum ersten Mal mit Toby sah, dachte ich, du wärst eine Tänzerin“, erinnert sich Capron. „Ich fand dich hinreißend. Der lange Hals!“ – „Nein, nein, du warst elegant, nicht ich“, wehrt Sylvette ab. „Du hattest schwarzes Haar und diese zierliche Figur. Ich gehörte doch zur Boheme.“ Sie sagt es ohne jede Koketterie.

Sylvette hatte, die Fotos zeigen es, den Charme einer Brigitte Bardot in unschuldig. Mit ihr porträtierte Picasso gewissermaßen eine ganze Generation. Die jungen Frauen der 50er- und 60er-Jahre trugen keine Betonfrisuren mehr. Die neue Natürlichkeit war eine kleine Revolution, Sylvette mit dem Pferdeschwanz wurde zu ihrer Ikone. Doch auch wenn sie in den Medien ein Star war, mit ihrer Selbstwahrnehmung hatte das nichts zu tun. Sylvette war geprägt von der Trennung der Eltern und dem antiautoritären Erziehungsstil ihrer Mutter. Ihre Kinderjahre verbrachte sie auf der Île du Levant vor der südfranzösischen Küste, wo Nudismus gepflegt wurde. Es stieß sie ab. „Ich war voller Komplexe“, erzählt sie bei Kaffee und Croissants, vollendet gelassen. Dass sie die Muse eines weltberühmten Malers war, verführt sie nie dazu zu glauben, sie kennte ihn besser als andere. „Es war doch nur eine so kurze Zeit“, sagt sie. In ihren Erzählungen klingt die Perspektive des halben Kindes durch, das sie damals noch war.

Im Atelier Madoura ist sie nie gewesen, und schon gar nicht beim Stierkampf, dem Picasso in Vallauris ausgiebig huldigte. „Da waren die anderen Frauen“, sagt sie. Mehr sagt sie nicht, aber dass bei den „anderen Frauen“ einiges durcheinanderging, weiß man ja. Eigentlich war Picasso damals in den letzten Zügen seiner Liaison mit Françoise Gilot, der Mutter seiner Kinder Claude und Paloma – aber er kannte bereits Jacqueline Roque, die im Sommer 1954 seine offizielle Partnerin wurde und mit der er bis zu seinem Tod zusammenbleiben sollte. Wie weit dieses Kennen in jenem Frühjahr ging, nun ja. Jedenfalls machte sich die eigenwillige Gilot ihren Reim auf den Zustand ihrer Beziehung mit Picasso und trennte sich von ihm. Das war im Selbstbild eines spanischen Machos natürlich nicht vorgesehen. Weder sein Ruhm noch seine Launen noch seine Drohungen, ihre eigene Karriere als Malerin zu verhindern, hielten sie von ihrem Schritt ab.

Sylvette hat Picasso nur zu den Sitzungen im Atelier du Fournas getroffen. Doch in den Raum, in dem die Bilder und Skulpturen entstanden, in dem sie so viele Stunden aus dem Fenster sah und sich, während Picasso arbeitete und rauchte und schwieg, oft entsetzlich langweilte, in diesen Raum kommt an diesem Wintertag selbst Picassos frühere Muse nicht hinein. Ein Stahltor versperrt die Sicht auf das zweigeschossige Gebäude. Nebenan säumen Mülltonnen die Zufahrt zu einem Altenheim, Autoverkehr rauscht vorbei, während die alte Dame sich vom Bürgersteig aus vergegenwärtigt, wie sich der Ort seit 1954 verändert hat. „Es war eine dörfliche Gegend, überall waren Gärten und kleine Töpfereien. Man konnte von hier oben über ganz Vallauris sehen“, sagt sie und wirft einen resignierten Blick auf die apricotfarbenen Apartmentklötze nebenan.

Als sich Picasso und Sylvette 1954 trafen, war Gilot schon ausgezogen. Seine Kinder sah er nur sporadisch. „Er litt unter der Trennung von ihnen“, sagt sie. Die erotischen Fußangeln muss sie schlafwandlerisch umgangen haben. In dem Maler sah sie einen freundlichen alten Mann, keinen Eroberer. Nackt Modell zu sitzen kam für sie nicht infrage; den Akt von ihr hat er aus der Fantasie gemalt. „Er hat gespürt, dass ich Angst vor Männern hatte. Er brachte mich zum Lachen. Ich war so ernst!“

Eins der Bilder durfte Sylvette sich zum Dank aussuchen. Sie entschied sich für eine naturalistische Bleistiftzeichnung. Als sie mit Tobias und ihrer ersten Tochter in Paris lebte, verkaufte sie das Bild, um eine Wohnung zu kaufen und Tobias’ Tuberkulose behandeln zu lassen. Was ihn nicht hinderte, sie für ihre beste Freundin zu verlassen. Sie heiratete erneut und bekam zwei weitere Kinder, die zweite Ehe ging auch in die Brüche. Spiritualität habe sie gerettet, erzählt sie. Sie hängt der überreligiösen Subud-Bewegung an; um den Hals trägt sie eine Kette mit dem Kreuz des heiligen Franz von Assisi.

Mit 45 Jahren begann sie zu malen. In ihren Werken tauchen die Bilder aus Picassos Sylvette-Zyklus als Zitate immer wieder auf. „Ich habe noch nicht sein Niveau erreicht“, sagt sie und lacht. „Meine beste Zeit ist jetzt, wo ich alt bin. Schöpferisch sein zu können bedeutet für mich Glück. Das hat mich Picasso gelehrt.“

Nach jenem Frühjahr hat sie nie wieder für ihn Modell gesessen. Elf Jahre später besuchte sie ihn noch einmal. Inzwischen lebte er mit Jacqueline Roque in Mougins, dem vornehmen Nachbarort von Vallauris. Die Abendsonne gießt mediterranes Gold über Picassos ehemaligen Park, während Sylvette von der Kapelle aus hinuntersieht und sich daran erinnert, wie ihre kleine Tochter den Maler beim Teetrinken auf der Terrasse auf einem Bürostuhl hin- und herdrehte. Nach dem Besuch sagte Picasso über Sylvette zu einem befreundeten Autor: „Sie ist nicht so stark wie mein Werk.“

Für einen Moment erstarrt ihr Gesicht, dann kehrt die Gelassenheit zurück in ihre Züge. „Ich war eben inzwischen Mutter. Man kann nicht immer 19 bleiben.“ Nicht einmal für Picasso.