Arte und der Bayerische Rundfunk stellen in Hamburg ihr ungewöhnliches Großprojekt „24h Jerusalem“ vor, das am 12. April ausgestrahlt wird

Alles liegt hier nah beieinander. Ausgelassenheit und angespannte Ruhe. Familienchaos beim Zähneputzen und rituelles Morgengebet. Freiheit und Bedrohung. Jerusalem ist nicht irgendeine Stadt. Sie ist unvergleichbar. Kein Wunder, dass sich die Filmemacher Volker Heise und Thomas Kufus gemeinsam mit den öffentlich-rechtlichen Sendern Arte und Bayerischer Rundfunk für ihr neues Langzeitprojekt ausgerechnet die 800.000-Einwohner-Metropole ausgesucht haben. „Jerusalem ist die verrückteste Stadt der Welt“, sagte Produzent Thomas Kufus bei der Filmpräsentation am Dienstag in Hamburg.

Wer „24h Jerusalem“ sieht, selbst nur Ausschnitte, versteht, was er meint. War der Vorgängerfilm „24h Berlin“ das Porträt der deutschen Hauptstadt in unendlich vielen Mosaiksteinchen, gestaltet sich die Sache mit Jerusalem ungleich komplizierter. Wie zeigt man Alltag in einer Stadt, deren Bewohner keinen Alltag kennen? „Man hat das Gefühl, als würde einem ständig der Boden unter den Füßen weggezogen“, beschreibt es Regisseur Volker Heise. Sie haben es dennoch gewagt. Das Ergebnis ist am 12. April von sechs Uhr morgens an (bis sechs Uhr morgens am Folgetag) bei den beteiligten Sendern zu sehen. Auf www.24hjerusalem.tv sind vertiefende Beiträge abrufbar.

Insgesamt 70 Filmteams — darunter Schauspielhaus-Ensemblemitglied Maria Schrader, die sich an die Fersen eines Menschenrechtsanwalts geheftet hat — haben 90 Protagonisten durch ihren (All-)Tag begleitet. Waren dabei, als sie Bar-Mizwa feierten, zur Schule liefen, zu heiligen Orten pilgerten. Studenten und Rapper, Alleinerziehende und eine Familie mit neun Kindern, Orgelspieler und Sterneköche. Juden, Muslime und Christen, Israelis, Palästinenser und Ausländer. Menschen, die nachdenklich waren und überschwänglich, schrullig und sympathisch. Ein kleiner Junge vertrödelt scheinbar sinnlos die Zeit auf seinem Weg zum Kindergarten; ein Pilger besprüht sich die lange Haarpracht mit dreifach gesegnetem Wasser. Daraus eine Einheit zu schaffen, ein stimmiges Bild, das gleichzeitig zu einer Vielzahl von Blickwinkeln führt — das ist die eigentliche Kunst dieses Großprojekts.

Eine 2,4 Millionen Euro teure Unternehmung, die beinahe nicht zustande gekommen wäre. Die Dreharbeiten mussten aufgrund von Boykotts, Versuchen inhaltlicher Einflussnahme und Protesten mehrfach gestoppt werden. Die Arbeit in der politisch aufgeladenen Atmosphäre floss natürlich auch in den Film ein. Man könnte sagen, Jerusalem übernahm teilweise selbst die Regie. „Der Konflikt spielt natürlich eine Rolle im Programm, weil er im Leben der Protagonisten, die wir begleiten, eine Rolle spielt“, sagt Regisseur Heise. Die innere Zerrissenheit der Stadt war auch ein Grund für die „24h Berlin“-Macher, sich beim Folgeprojekt für Jerusalem zu entscheiden. Dabei gab es reichlich Alternativen. Paris, London, Rio. Alles interessante Metropolen, die aber bei genauem Hinsehen ähnlich funktionieren wie Berlin, so die einstimmige Meinung. Jerusalem — das war etwas völlig anderes. Eine echte Herausforderung.

Für die Beteiligten ist es ebenso ein Experiment wie für den Zuschauer, dessen Sehgewohnheiten sich auf 90-minütige Geschichten und Nachrichtenbeiträge in den berühmten „Einsdreißig“ beschränken. Lässt sich das Publikum auf den ungewohnten Erzählrhythmus in Echtzeit ein? Taucht er ein in die Lebenswirklichkeit der Protagonisten, über die sich die jahrhundertealte Stadt letztlich definiert? „Dieses Projekt ist besser als jede Serie“, sagt BR-Redakteur Hubert von Spreti. Mehr große Erzählbögen, mehr pures Leben und echte Figuren. Das mag Ansichtssache sein; einen wahren Kern enthält die Behauptung dennoch.

Wie revolutionär „24h Jerusalem“ tatsächlich für das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist, wird deutlich, wenn von Spreti von den anfänglichen Vorbehalten im Sender berichtet. Die regulären Sendungen ausfallen lassen? Streichen für eine 24 Stunden lange Dokumentation, die zwar mit wiederkehrenden Figuren arbeitet und mit Off-Texten Hintergrundinformationen liefert, aber ungefähr so leicht konsumierbar daherkommt wie ein Stummfilm mit Zwischentiteln? Ja, so geschieht es nun tatsächlich.

Wer sich vom Fernsehprogramm zurauschen lassen, maximal 20 Prozent Aufmerksamkeit investieren will, ist bei „24h Jerusalem“ an der falschen Adresse. Wer etwas erfahren will über die DNA einer unbekannten oder wenig bekannten Stadt, der sollte am 12. April unbedingt einschalten.