Der TV-Film „Weiter als der Ozean“ thematisiert psychische Störungen von Kindern – mit überraschend viel Tiefe und Leichtigkeit

Ein großes Glück dieses Films ist, dass da Kinder mitspielen, die das auch können. Sie sind sechs, neun und 13, im Film sind sie alle in Psychotherapie, und wie einfach wäre es gewesen, da zu versagen: Die Rolle des verstörten Kindes zu verstört, zu künstlich und dadurch viel zu wenig kindlich zu spielen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Und deshalb schaut man sie auch so fasziniert an: Konrad (Luis August Kurecki), der schon sechs ist, aber immer noch ins Bett macht. Den neunjährigen Linus (Claas Schröder), der ständig Wutanfälle bekommt und seine Mitschüler schlägt. Und Nele (Emma Bading), 13, die raucht, trinkt und alle Menschen beschimpft, die irgendetwas von ihr wollen. Judith, ihre Therapeutin (Rosalie Thomass), ist neu in der Stadt und selbst gerade auf der Suche nach Orientierung – ihr Freund, der eigentlich mit ihr nach Berlin ziehen wollte, kneift im letzten Moment. Ein sicher geglaubter Lebensplan ist zerbrochen.

Natürlich klingt das nach einem ziemlich vorhersehbaren Frau-wird-verlassen-und-wuppt-es-trotzdem-Plot. Aber die erste Befürchtung will sich einfach nicht bestätigen, und das macht den Film „Weiter als der Ozean“, der Mittwochabend um 20.15 Uhr im Ersten läuft, zu einer am Ende doch überraschenden Bereicherung dieser Fernsehwoche. Vieles wird angedeutet, aber nicht alles ausgesprochen. Szene für Szene wird man tiefer hineingezogen in die Krankengeschichten dieser Kinder, die so unterschiedlich enden wie sie letztlich auch sind, und so ganz schlau wird man aus ihnen ohnehin nicht. Was natürlich ganz wunderbar ist. „Weiter als der Ozean“ ist ein Film ohne Servicegedanke, ohne Ratgeberfunktion nach dem Motto: Ihr Kind hat das auch? Ist doch nicht schlimm, versuchen Sie’s doch mal damit!

Um sich auf ihre Rolle als Therapeutin vorzubereiten, hatte Schauspielerin Rosalie Thomass im Vorfeld der Dreharbeiten selbst an psychotherapeutischen Sitzungen mit Kindern und Jugendlichen teilgenommen. Es habe sie erstaunt, wie sehr Therapeuten sich dabei zurücknehmen und den Kindern einen Freiraum geben, den sie nirgendwo sonst bekommen – nicht in der Schule und schon gar nicht bei den Eltern. So wollte auch Thomass im Film als Therapeutin wirken. Es gelingt ihr erstaunlich gut. Besonders in einer Szene, in der sie den sechsjährigen Konrad behandelt. Wie abwesend gräbt der seine Hand durch einen Sandberg, bis nur noch ein Finger herausschaut. „Wenn nur mein einer Finger herausguckt, dann denkt man, er lebt ganz allein. Wenn man nichts über Menschen weiß. Dann weiß man nicht, dass an dem Finger noch eine Hand dran ist. Und an der Hand ein Arm. Und an dem Arm ein Junge.“ Judith hört ihm einfach nur zu, es ist eine Begegnung auf Augenhöhe. „Ein Junge, der Konrad heißt und sechs Jahre alt ist?“, fragt sie ihn nach einer kurzen Pause. Konrad schaut sie an und nickt und sieht zum ersten Mal aus wie ein glücklicher Junge von sechs Jahren. Ein sehr schöner Moment ist das.

Die meisten Szenen des Films, zu dem die Hamburgerin Beate Langmaack das Drehbuch geschrieben hat, spielen in der psychotherapeutischen Praxis, wo Judith immer wieder mit ihrem Chef aneinandergerät – gespielt von Götz Schubert, Ensemblemitglied des Schauspielhauses, der dort zur Zeit in zwei Inszenierungen zu sehen ist: In den „Rasenden“ und der „Ballade vom fliegenden Holländer“. In „Weiter als der Ozean“ spielt er genauso, wie man sich einen promovierten Kinderpsychologen vorstellt: Hat schon alles gesehen, ist trotzdem für seine Kollegen da. Gerade auf den Szenen in der Praxis liegt immer eine erstaunliche Leichtigkeit. Vielleicht, weil tatsächlich immer die Sonne scheint. Vielleicht, weil diese Szenen nur am Rande wichtig sind, die wahren Protagonisten sind am Ende eben doch die Kinder.

Oder es liegt am zweiten Schauplatz der Handlung: Stralsund. Hier, im Ozeaneum, lernt Judith den Meeresbiologen Martin kennen. Der ist auf der Suche nach einem Buckelwal, der sich in der Ostsee verirrt hat, kaum merklich verweben sich die Geschichten der Kinder mit dem Schicksal des orientierungslosen Tiers. Gemeinsam mit seiner Therapeutin fährt Linus an die Ostsee – er möchte unbedingt den Buckelwal sehen. Noch so eine Szene, die wahnsinnig kitschig hätte sein können. Die es aber nicht ist, weil Linus aggressiv reagiert, als der Wal nicht auf Kommando vor seinen Augen auftaucht.

Es gibt eine Menge verschiedener Ebenen in diesem Film. Und am Ende wird es nicht für jedes der Kinder eine Lösung geben. Da schluckt man kurz bitter – doch dafür, dass man ihre Geschichten unter „Alles halb so schlimm“ verbucht, waren sie auch einfach zu gut.

„Weiter als der Ozean“ 19. Februar, 20.15 Uhr, ARD