Der Autor Nils Mohl hat mit Schülern in Wilhelmsburg kleine literarische Werke verfasst

Hamburg. Ein Schreibtrainer ist etwas anderes als ein Deutschlehrer. Aber unter Umständen muss er dieselben Motivationstechniken anwenden, wenn es um Literatur geht. In dem von der Bürgerstiftung und der Kids-&-Friends-Stiftung geförderten Literaturhaus-Projekt „Schulhausroman“ geht es seit 2009 nicht nur um Lese-, sondern um Schreibförderung. Unter Anleitung eines professionellen Autors arbeiten die Schüler über mehrere Wochen an einem eigenen literarischen Werk. Der Schriftsteller Nils Mohl („Stadtrandritter“) war in der 9c der Stadtteilschule Wilhelmsburg im Einsatz. Das Verfassen der Texte sei harte Arbeit gewesen, erzählt der Jenfelder Mohl im Abendblatt-Interview.

Hamburger Abendblatt:

Als Schriftsteller arbeiten Sie einsam an Ihren Texten. Beim „Schulhausroman“ treffen Sie auf ein lautes Autorenkollektiv. Interessante Erfahrung, oder?

Nils Mohl:

Die Schüler sind so um die 15 – Hochpubertät. Auf jeden Fall alt genug, um sich selbst herrlich im Weg zu stehen. Man sieht noch die letzten Züge von Kindlichkeit in den Gesichtern. Alle sind eifrig dabei, sich als Erwachsene neu zu erfinden. Mit den zu lauten Sprüchen, mit den missglückenden Gesten und jeder Menge Energie – vor allem für alles, was nichts mit Schule zu tun hat.

Für einen professionellen Autor muss es in diesem Setting skurrile Momente geben. Wie ist es Ihnen beim Verfassen des „Schulhausromans“ ergangen?

Mohl:

Ich könnte jetzt meine Lieblingspappnasen in die Pfanne hauen. Die mit der großen Klappe, die zum Schreiben einen Kumpel als so eine Art persönlichen Sekretär ausgewählt haben, weil sie selbst nichts hinbekommen hätten. Gruppenarbeit, hieß das dann. Aber wirklich faszinierend waren ganz andere Dinge. Zum Beispiel, wie fest die Sehnsucht dieser Nachwuchs-Autoren nach dem guten alten Märchenstrickmuster in den Köpfen verankert ist. Noch nach meinem letzten Besuch habe ich E-Mails bekommen mit neuem Text, weil den Schülern das unheimlich wichtig war: Das Happy End musste rein. Auch an Stellen, an denen ich sehr gut und oft sehr viel besser mit einem offenen Schluss hätte leben können. Sogar der Gangsterboss musste noch aus dem Gefängnis ausbrechen und Asyl bei einem Diktator finden.

Wie lautete die Aufgabenstellung?

Mohl:

Klasse schreibt Roman. Autor leitet sie dazu an. Dafür sind sechs Doppelstunden Zeit. Soweit die Kurzfassung des Auftrags an mich. Wie ich den umsetze, das konnte ich frei entscheiden. Meine Idee war, die Klasse bei der Horrorfilmleidenschaft abzuholen. Also haben wir damit begonnen, uns darüber zu unterhalten, was denn Tiere sind, vor denen wir uns fürchten. Ich hatte eigentlich die Vorstellung, dass man über diese Schiene in die Rolle seines schlimmsten Feindes schlüpfen könnte. Und das war mein Hauptanliegen: Die Schüler sollten die Chance haben, sich beim Schreiben als jemand anderen neu zu erfinden. Ich dachte, das sollte sie interessieren.

Und wie war die Umsetzung?

Mohl:

Die Klasse hat sich nie auf eine einzige Idee einigen können. Was mir im Nachhinein völlig einleuchtet: Gute Geschichten leben von der Persönlichkeit des Autors. Eine Schulklasse ist aber eine Ansammlung von sehr vielen Persönlichkeiten. Und als wir dann nach den ersten Stunden gesichtet haben, was an Ansätzen so vorlag, stach zwar eine Geschichte heraus, aber nachdem die Handlung dann in Gruppenarbeit weiterentwickelt worden war, passierte nichts mehr. Null. Wir hatten Aufgaben verteilt und von Woche zu Woche bekam ich eigentlich immer vor der nächsten Stunde die neuen Texte zugeschickt, aber dieses Mal: Schweigen aus Wilhelmsburg. Die konnten oder wollten eine fremde Geschichte einfach nicht weiterschreiben. Und die ursprüngliche Autorin hat durch die fremden Eingriffe auch die Lust an der Sache verloren. Ich habe schließlich aus der Not eine Tugend gemacht und alle halbwegs brauchbaren Anfänge in kleineren Gruppen weiterentwickeln lassen. So ist am Ende eine Art Episodenroman entstanden, ein Geflecht aus mehreren Geschichten mit dem Titel „Vier Mal Henry“.

Wie viel Leseerfahrung kann man bei den Schülern voraussetzen?

Mohl:

Wichtig für das Erzählen ist, dass man Geschichten kennt. Und mit 15 kennt man reichlich davon. Die Schüler sind aber eher keine Leseratten, daraus machen sie auch keinen Hehl. Die Konzentration für Bücher haben die in der Regel nicht. Die Geschichten kommen woanders her. Fernsehen. Internet. Sportplatz. Schulhof.

Wie viel Schreiblust war vorhanden?

Mohl:

Darüber habe ich viel nachgedacht. Bei einem meiner Besuche saß ich während einer Gruppenarbeit neben einem Jungen, der schrieb nicht, der malte Buchstaben. Man sah: Das war eine physische Anstrengung für den. Er hat die aber auf sich genommen. Ein andermal saßen wir im Computerraum. Und auch da habe ich gestaunt: Einige Schüler können wirklich fix tippen. Aber der Weg von einer Idee bis zum formulierten Text ist für die meisten trotzdem gigantisch lang. So oder so. Und nur für wenige ist dieser Weg eine Lust. Auch weil sich Erfolge beim Aufschreiben von Geschichten immer langsam einstellen. Selbst wenn man geübt darin ist.

Gibt es Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen?

Mohl:

Die Jungs hatten ruckzuck Pläne zu einem Mafia-Epos. Am Ende reichte es aber nur zu ein paar Dialogen, die auf dem Gefängnishof spielen, nebst sehr, sehr rohen Skizzen zur Vita des Gangsterbosses. Die Mädchen hingegen haben kleiner und viel pragmatischer angefangen. Außerdem haben sie ihre Geschichten auch deutlich beharrlicher zu Ende geführt. Was gar nicht ging, war, dass Jungs und Mädchen zusammen an etwas gearbeitet hätten. Vielleicht das Alter?

Das Klischee besagt, dass Handy, Facebook, Glotze und Playstation den Alltag der Jugendlichen bestimmen. Ist das wirklich eine ganz andere Generation, auch was die Mediennutzung angeht, als Ihre?

Mohl:

Es gibt ja die allgemeine Tendenz, dass das Verlangen nach Unterhaltung und Zerstreuung alle Lebensbereiche immer stärker durchdringt. Was zu einer stark verinnerlichten Konsumentenhaltung führt, auch im Unterricht. Vorne muss laufend was passieren, sonst ist man schnell abgelenkt. Ansonsten wirkte der Schulalltag auf mich doch im Vergleich zu meiner Jugend gespenstisch unverändert. Körpersprache. Sitzordnung. Gruppendynamiken. Alles wie früher. Bis hin zur Rollenverteilung. Hier das selbstverliebte Großmaul, da der geduckte Außenseiter, dort das verhuschte Aschenputtel und so weiter. Vermutlich haben die auch dieselben Probleme: Im Klassenzimmer selbst sitzen eben nach wie vor Menschen zusammen, die mit anderen Menschen klarkommen müssen. Der technische Fortschritt fällt übrigens auch in den Geschichten nicht groß ins Gewicht. Die spielen nicht im Internet. Sondern in Kellern und Parks, in exotischer Ferne oder in postapokalyptischen Städten. Maximal bimmelt hier und da ein Handy.

Wie lautet Ihr Fazit nach einem Halbjahr Wilhelmsburg?

Mohl:

Wie immer, wenn ich unterrichte, hatte ich am Ende das Gefühl: Am meisten habe ich selbst gelernt. Ich würde behaupten: Wer etwas über das Handwerk des Schreibens erfahren will, sollte mindestens einmal das Glück haben, in eine Klasse geschubst zu werden. Man kann ja nur das halbwegs einleuchtend erklären und vermitteln und bewerten, was man auch selbst verstanden hat. Und man kann auch nur dafür begeistern, wovon man selbst begeistert ist. Schule ist in dieser Hinsicht die beste Schule. Und vielleicht die härteste. Denn dort ist einem selbstredend nicht klar, wozu das Schreiben und Erzählen gut sein soll. Man merkt nur, es kostet unheimlich viel Zeit und Mühe.