Junge Zuhörer sind rar in den Konzertsälen. Wie lässt sich das ändern? Bei seinem ersten Auftritt nach der Vertragsunterzeichnung macht Hamburgs künftiger Generalmusikdirektor Kent Nagano Hoffnung.

Die Einschläge scheinen, mal wieder, immer näher zu kommen. Gerade erst machten alarmierende Umfrageergebnisse ihre Runde durch viele deutsche Feuilletons: Stolze 88 Prozent der Befragten halten klassische Musik für ein wichtiges Kulturgut, aber nur jeder Fünfte besuchte in den letzten zwölf Monaten auch leibhaftig ein Klassik-Konzert, hieß es dort. Man kann diese Zahlen so oder so sehen, als Zeichen einer Krise oder als Riesenchance. So ziemlich jede Statistik bietet viel Deutungsspielraum.

Die kulturelle und gesellschaftspolitische Herausforderung, die jetzt wieder viele aufschreckt, mag nicht neu sein, aber sie ist aktuell. Sie ist so alt wie die Silberseen in vielen Konzerten, auch in Hamburg, jener Stadt, die mittlerweile etwa 800 Millionen Euro in der Elbphilharmonie verbaut hat. Jener Stadt, in der Brahms geboren und der Zugereiste Telemann im Barock noch berühmter wurde. „Silbersee“, so lautet der deprimierte Spitzname der Klassikbranche für die vielen ergrauten Häupter, für das sich nicht mehr ausreichend verjüngende Publikum. Es stirbt den Konzertveranstaltern, die von ihnen leben, weg – und niemand kommt nach, das ist ihre Angst. Schwierig wird die Klassik-Vermarktung auch durch die Furcht vieler Neulinge, sich mit Unkenntnis zu blamieren. Dazu kommen die Skrupel insbesondere Jüngerer, sich einer Kunstform auszusetzen, die fast jeden mühelos mit Fachwissen-Dünkel verschrecken kann.

Ein ganzes Musikgenre mit vielen starren und einigen sehr alten Regeln scheint, mal wieder, zum Abschuss durch den Zeitgeist freigegeben. Klassik gilt längst als zu teuer, als zu elitär, als zu schwierig und zu intellektuell. Das ist für viele Klassik-Kritiker einfach zu wenig, um eine zweckoptimierte Zukunft im 21. Jahrhundert zu verdienen. Erst recht, wenn das Auffüllen von klassischen Bildungslücken mit Steuergeldern erkauft werden soll, während drei Ecken weiter Schlaglöcher in den Straßen klaffen und Kita-Muttis gegen ganz andere Streichkonzerte auf die Barrikaden steigen. Während die Mieten steigen und ganze Stadtteile nicht wissen, was Veränderungsdruck für sie wohl noch mit sich bringt.

Die „Süddeutsche Zeitung“ verpasste dem Klassik-Krise-Lamento vor wenigen Tagen die leicht fassungslose Überschrift „Fack ju Mozart?“ als Anspielung auf den aktuellen Doof-sein-macht-nichts-Kinoerfolg. In den USA findet man momentan viele deprimierende Beispiele für das, was passiert, wenn Klassik ohne größeren Widerstand zum Alteisen erklärt wird, zur verzichtbaren Randbebauung des Smartphone-Alltags: Orchester gehen pleite. Opernhäuser werden geschlossen. Radiosender verenden. Klassik ist für die Daumen-hoch-Kultur mit Fünf-Minuten-Aufmerksamkeitsspanne dort bald nur noch das, was Brokkoli für viele Kinder ist – gesund und wichtig, wie ihnen Erwachsene einbläuen, aber freiwillig lecker finden? Bestimmt nicht.

Kent Nagano, weltweit als Star-Dirigent gefeiert, wird ab Herbst 2015 Generalmusikdirektor an der Hamburger Oper sein. Seine Rede am Mittwoch im KörberForum ist der erste Auftritt in der Stadt nach der Vertragsunterzeichnung im Rathaus, er wurde eingeflogen von einer Probe in München. Eine subtil gesetzte Duftmarke in unmittelbarer Nachbarschaft der Elbphilharmonie, wo der NDR-Kollege Thomas Hengelbrock als Residenzorchester-Maestro mehr zu sagen haben wird als der Philharmoniker-Chef Nagano. Navid Kermani, Kleist-Preisträger und Autor des Plädoyers „Vergesst Deutschland“, ist als streitbarer Vor- und Querdenker bekannt. „Über die Bewahrung der Kultur trotz ihres Untergangs“ will er reden.

Nagano und Kermani sind nach Hamburg gekommen, um einen Musikvermittlungskongress zu eröffnen, mit Schlaumeier-Sätze wie „Klassik ist, was wir sind“ oder „Die Glasperlen unserer Kultur sind endlich. Was sie ausdrücken, nicht.“ Der erste Reflex auf solche Thesen könnte sein: Meine Güte, schon wieder Lebenszeit verschenken heute Abend. Dank Nagano kommt es anders.

Zunächst argumentiert sich Kermani von Hesses „Glasperlenspiel“, dessen Vision einer auf Kunstvervollkommnung geeichten Gesellschaft, mit einem Steilpass in unsere Gegenwart. Hier verkleinert Wissen sich auf Information, der Bildungskanon bröckelt „an allen Ecken und Enden“, weil Studenten ihre Lektüre nur noch aus Wikipedia-Kurzfassungen kennen. „Über das Stadium kaum merklicher Risse ist die Kultur längst hinaus.“

Wer freiwillig mehr und Schwierigeres liest, ist für Kermani schon ein „Opfer“ in den Augen jener, die sich das Leben ganz einfach leichter machen. Kermani sinniert über Adornos berühmten Satz, man könne nach der Katastrophe von Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben. Er schwärmt von den aufregenden Weltentwürfen von Autoren wie Kafka oder Proust. Er macht also gleichzeitig alles so bewundernswert sonntagsredenrichtig, während er sein wichtigstes Ziel verfehlt. Denn er begeistert nicht, er belehrt vor allem. Das könnten viele.

Es ist die mittlerweile vierte Runde, die das Thema Musikvermittlung hier im Kreis zu laufen scheint. „Katholisch sind wir alle ja schon“, hatte die Hamburger Kultursenatorin Barbara Kisseler deswegen zu Recht in ihrer Begrüßungsrede gescherzt, von der Überlebenswichtigkeit neuer Konzepte für Konzerthäuser muss man hier niemandem noch etwas vormachen. Später sagt sie auch noch, als ob sie mit dieser Einstellung die Einzige wäre: „Gegen praktische Rezepte hätte ich gar nichts.“

Mit einem selbstironischen „Auch dieses Jahr kann ich nur wieder sagen: In drei Jahren ist sie fertig“, beendet Hamburgs Generalintendant Christoph Lieben-Seutter seinen Auftritt, wenige Meter Luftlinie von der Elbphilharmonie-Baustelle entfernt, die symbolträchtig im Abenddunkel liegt. Für ihn fange die Musikvermittlung an der Konzerthaus-Garderobe an, hatte er davor erklärt, alles, was er und sein Team sich ausdenken, sei Teil ihrer Problemlösungsmaßnahmen. Auch das ist viel zu generell, um mehr zu sein als gut abgehangene Rhetorik.

Danach beginnt Nagano mit seinem Vortrag und erzählt, weil es um Erbe und Tradition gehen soll, von einer Jugend in einem beschaulichen kalifornischen Kaff, wo es mehr Kühe gab als Menschen und er vom Flügel seines Klavierlehrers den Strand sah. Der Klavierlehrer war aus Russland und vor den Nazis in die USA geflohen. Die anderen hörten die Hits der Beach Boys, Nagano übte Mozart. Er saß im Schulorchester neben dem Sohn des Bäckers. Und Jahre später, die Karriere ist bereits gut im Gang, stand Nagano als Bittsteller vor einer frustrierten Finanzministerin, die ihn fragte, was an seiner Arbeit und an Musikvermittlung wichtiger sei als die vielen Problemstapel auf ihrem Schreibtisch? Wichtiger als morsche Brücken, wichtiger als kollabierende Krankenhäuser? Warum sollte sie ausgerechnet ihm 1,2 Millionen für Klassik geben? Nagano hatte keine überzeugende Antwort parat und bekam den Rat, er soll später wiederkommen und sich bis dahin genau umsehen. Er beherzigte diesen Rat.

Als Nagano 2006 seinen Chefposten in Montreal antrat, war das Orchester dort tief in den Miesen. Die Konzerte waren zu zwei Drittel leer, das Durchschnittsalter der Besucher lag bei 65 Jahren. Er versprach seinem Publikum, ab sofort nur Meisterwerke zu präsentieren, und das in bestmöglicher Qualität. Offenbar glaubte man ihm und der Plan ging auf. Die Stadt hat sich inzwischen für viel Geld ein neues Konzerthaus gebaut, die Konzerte seien bestens besucht, sagt Nagano, das Durchschnittsalter: 38. Es geht also, soll das heißen. Lasst uns nur machen.

Klassik formt die Identität einer Gesellschaft, sagt Nagano, der neben Musik auch Soziologie studiert hat, und meint damit auch die Kultur an sich. „Sie verändert, wie wir denken und zeigt uns die Unterschiede zwischen groß und großartig.“ Was hat Klassik mit Technik zu tun, fragt Nagano, der im gleichen Kalifornien geboren wurde wie Apple-Gründer Steve Jobs. „Ein Kind, das am Instrument übt, muss sich darauf konzentrieren, Lösungen zu finden, und das viel länger als nur fünf Minuten.“ Was hat Klassik mit uns zu tun, fragt Nagano und gibt auch diese Antwort gleich selbst. Sie ermöglicht es, sich mit Werten auseinanderzusetzen. „Beethoven bezeichnen wir nicht als Komponisten schöner Melodien, sondern als Komponist großer Ideen.“ Anschließend berichtet er von der kalifornischen Stadt Oakland. Als das Geld knapp wurde, musste sich die Stadt entscheiden, ob man das Orchester sterben lassen oder die Oakland Raiders, ein berühmtes Football-Team, halten wollte. Man entschied sich für die Raiders. Doch die ließen sich wenig später für viel Geld nach Los Angeles abwerben. Nur wenige Jahre später, so Nagano, war Oakland als „murder capital“ berüchtigt. „Klassik ist nicht nur wichtig, sondern essenziell für eine bessere Welt“, sagt Nagano. Spätestens jetzt könnte man die berühmte Stecknadel fallen hören. Schnell umsetzbare Patentrezepte hat auch Nagano nicht. Aber er begeistert an diesem Abend, weil er nur erzählt, was war und was sein kann. Weil er sich umgesehen hat.

Am Ende seines Vortrags lautet die erste Frage des Moderators Holger Noltze an Nagano: „Tja, und was sollen wir nun tun?“ Typisch, für ihn wie für die gesamte Debatte, fällt seine Reaktion darauf aus. „Die Antwort liegt in der Frage: Was sollen wir nicht tun?“ Und als wenig später, bei den Häppchen im Foyer, die Plauschs beginnen, kann man so zu Herzen gehende Geschichten hören wie die von einem Führungskräfte-Konzert, bei dem Manager es frontal mit Strawinskys „Sacre du Printemps“ zu tun bekamen. Ein Klassiker der Moderne, der vor gut 100 Jahren bei seiner Premiere in Paris einen Riesenskandal auslöste, weil seine aus heutiger Sicht harmlosen Rhythmen das Publikum anfauchten, weil sie im feinen Théâtre des Champs-Élysées nach unkontrollierbarer Wildnis stanken. Den Dirigenten Leonard Bernstein erinnerten die Eruptionen dieser Musik an Dinosaurier-Sex. Als das „Sacre“-Konzert also vorbei war, konnte einer jener mit Zahlen groß gewordenen Manager, aus den Socken gehauen vor Begeisterung, nur noch stammeln: „Das geht nicht wieder weg.“ Die Excel-Tabelle, die solchen Eindruck hinterlässt, muss erst noch geschrieben werden.