Hauptsache Habanera: Jens-Daniel Herzog stellt der Staatsoper eine solide gebaute Inszenierung ins Repertoire-Regal

Hamburg. Bei der letzten Hamburger „Carmen“-Premiere, anno 1980 war das, sang und verkörperte Teresa Berganza das Titel-Luder, den Don José gab ein gewisser Plácido Domingo. Als Escamillo war Simon Estes engagiert, es dirigierte Christoph von Dohnányi. Das nur als erste Einordnung vorab, auf welch hohem Niveau man sich für eine aufsehenerregende Neubetrachtung dieses Publikumslieblings bewegen könnte, wenn man das will und kann.

Bei einer „Carmen“ kann man viel falsch und dennoch jahrelang gut Kasse machen; das Stück ist für jede Opernhaus-Leitung eine todsichere Bank, solange am Ende nur pünktlich das Messer blitzt und das Liebesleid groß und tragisch ist unter der Sonne Sevillas. Die Hamburger Oper gönnte sich nun, nach mehr als drei Jahrzehnten, eine Neuauflage, toller, schöner, klar, sollte sie wohl werden. Doch Jens-Daniel Herzogs Version, die den Spielplan-Klassiker von 1980 als Markenartikel beleben sollte, blieb nicht nur musikalisch handzahm. Hier galt: Hauptsache Habanera, der Rest findet sich.

Gewagt war sehr wenig, dafür wirkte das Ambiente des clever verschachtelten Bühnenbilds viel zu opernpostkartig und klischeeverknallt: Die Soldaten schleppten ihre Pauschal-MGs von da nach dort, der Kinderchor wuselte allerliebst, die beiden Schmuggler sahen in ihren Trash-Verkleidungen aus wie von der Tarantino-Resterampe gefallen und Escamillos Torero-Outfit mit goldenem Luden-Trainingsanzug hätte selbst beim Schlagermove einen Platzverweis kassiert.

Diese Carmen, von Elisabeth Kulman mit vollem Körper- und beachtlichem Stimmeinsatz zum prallen Lotterleben erweckt, kam da aber eben doch nur als die x-te Unterschichten-Schlampe aus der Zigarettenfabrik über die Rampe. Während die Kolleginnen als dekorativ schlimme Lumpenproletarierinnen auftraten, trug Carmencita schon zur Frühschicht edelsündige Dessous unterm Mäntelchen und hatte für ihre Flirtattacken aufs schwache Geschlecht die guten Glitzer-Pumps griffbereit. Für so viel Aufgewärmtes, in romantisierende Geschichtenerzähler-Watte verpackt, hätte es nicht unbedingt eine neue Fassung gebraucht.

Leider rief niemand in diese familienfreundlich frivole Einfalt „Das ist kein anständiges Stück, das muss man nicht so spielen!“ Leider bekam zunächst auch der Dirigent Alexander Soddy, Simone Youngs ehemaliger Assistent, weder seine überschäumende Nervosität noch die mit ihm und den Philharmonikern durchgehenden Tempi in den Griff. Und das bei einem Stück, das nun wirklich wie im Schlaf klappen müsste.

Leider trübten Soddys übermotivierte Unsicherheiten den guten Eindruck, den der Chor unter seinem neuen Chef Eberhard Friedrich in letzter Zeit – die drei beispielhaft gelungenen Verdi-Premieren – gemacht hatte, weil er auch sie aus der Fassung und damit aus dem Takt brachte. Und leider hatten einige Darsteller nicht nur mit ihrer stimmlichen Kondition, sondern auch mit der Tatsache zu kämpfen, dass Herzogs Entscheidung für die frühe Dialogfassung ohne Rezitative ihnen einiges an schauspielerischem Agieren abverlangt.

Kulman war in dieser Bausparvertragsversion des Dreiecks-Dramas der mit Abstand größte Lichtblick. Ihr Fluppen-Flittchen, fein gestaltet und erotisch aufgeladen, zog die Männer an wie Motten das Licht, überschritt dabei aber die Grenze zur mitreißenden Hemmungslosigkeit ohne Wenn und Aber eher nicht. Sie war kein Biest, das nicht anders konnte, sie drapierte sich wie ein Dessert in der Schmugglerpinte auf dem Tisch, als der von so viel weiblicher Raffinesse rechtschaffen überforderte Don José an die Tür klopfte, um Vergebung und Hingabe zu erflehen.

Je schlimmer seine Lage, desto befreiter fand Nikolai Schukoff in seine Partie, die ihm am Premierenabend zunächst arge Schwierigkeiten bereitete. Als Micaëla, die kreuzbrav gekleidete Unschuld vom Lande, musste Liana Aleksanyan ebenfalls erfahren, dass ihre Rolle klein, aber nicht ohne ist. Lauri Vasar, immerhin als der nächste Prachtkerl gedacht, für den Carmen schwach wird, schwächelte in seinen Auftritten wie eine überrumpelte Last-Minute-Aushilfe. Alles in allem: Hausmannskost, sättigend, gut gemeint und solide, bis zum blutigen Ende ohne Mut zum wirklichen Risiko aufgetischt. Eine sehr deutsche „Carmen“. Der Premierenbeifall war engagiert, aber nicht überwältigend. Das hatte er mit dem Gezeigten gemeinsam.

Weitere Termine: 22./26./29.1 und 2./7./9./12.2. Informationen: www.staatsoper-hamburg.de