Pianistin Hélène Grimaud über moderne Konzertsäle, Werktreue und ihre Einspielung zweier Brahms-Konzerte

Hamburg. Hélène Grimaud verschwindet fast hinter all dem Obst und den Saftflaschen und Teekannen auf dem schweren Tisch, zierlich und noch etwas blass, wie sie ist. Um ihren Infekt auszukurieren, ist die Französin von Moskau nach Hamburg gekommen. Das war praktisch gedacht: Dort hatte sie den nächsten Auftritt auf ihrer Reiseroute, nämlich mit dem Klavierkonzert Nr. 1 von Brahms. Jüngst hat sie beide Brahms-Konzerte auf CD eingespielt. Andris Nelsons dirigiert das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (Nr. 1) und die Wiener Philharmoniker (Nr. 2). Die Erkältung näselt zwar noch nach, aber Grimaud ist hellwach und spricht ihr hoch differenziertes Französisch im gewohnten Überholtempo.

Abendblatt:

Frau Grimaud, muss man über Musik reden?

Hélène Grimaud:

Wenn man unter Musikern Worte braucht, damit das Wunder der Übereinstimmung funktioniert, hat man schon verloren.

Aber manche Musiker erklären ausführlich und erzählen Anekdoten.

Grimaud:

Klar. Aber das Reden ist nur ein Bonus. Etwas, das dazukommt.

Andris Nelsons redet ganz wenig.

Grimaud:

Er ist das beste Beispiel, dass das Wort zweitrangig ist. Ohne irgendetwas zu tun, strahlt er einfach Musik aus mit seiner Körpersprache, seinem Gesichtsausdruck, seinem Atem, der Energie, die von ihm ausgeht.

War es eine künstlerische oder eine praktische Entscheidung, die Brahms-CD mit zwei verschiedenen Orchestern zu machen?

Grimaud:

Beides. Ich habe die beiden Konzerte vergangene Saison mit verschiedenen Orchestern gespielt. Rein organisatorisch boten sie sich also an. Aber die Entscheidung, mit welchem Orchester ich die Aufnahmen mache, war schon eine künstlerische.

Wie war das, eine CD mit zwei Orchestern aufzunehmen? Fängt man da an zu vergleichen?

Grimaud:

Nein. Es war ja nicht dasselbe Werk. Man ist so sehr im Moment, in der Arbeit gefangen, dass nichts anderes zählt. Ich finde, es hat auch seine Berechtigung, weil beide Stücke so verschieden sind. Das zweite Klavierkonzert ist sehr wienerisch, das hat mit Norddeutschland nichts zu tun.

Das erste dagegen sehr.

Grimaud:

O ja! Das fühlt man körperlich. Diese dunkle, manchmal gequälte Atmosphäre, die zugleich sehr poetisch ist, immer sehr suggestiv und immer hindeutend auf eine Welt jenseits der unseren.

Zwischen den beiden Kompositionen liegen rund 20 Jahre. Hat Sie das zum Nachdenken über die ewige Frage gebracht, ob die Biografie das Werk beeinflusst?

Grimaud:

Ich habe da eine etwas gespaltene Haltung. Natürlich wissen wir Musiker viel über die Komponisten. Wir wollen ja wissen, woher ein Werk kommt, wer der Mensch war, der das geschrieben hat, was wir so lieben, was wir atmen, womit wir leben. Aber das Wesentliche geschieht auf einer sehr viel intimeren Ebene. Das Werk selbst muss sich mir offenbaren. Wenn es das nicht tut, hilft mir kein biografisches Wissen der Welt. Also, wenn ich zwischen zwei Antworten wählen müsste, würde ich mich für die zweite entscheiden! (lacht) Sonst wäre es doch zu einfach.

Was ist denn Ihre Maxime, wenn Sie ein Stück vor sich haben?

Grimaud:

Der Ausdruck muss stimmen. Ich will das Stück zum Leben bringen. Es geht nicht nur um Schönheit, das reicht nicht. Sondern es muss etwas viel Essenzielleres, Stärkeres hervorrufen. Wir suchen doch in der Musik dieses Spektrum der Emotionen.

Hätten Sie manchmal Lust, den Komponisten anzurufen und zu fragen, wie er etwas möchte?

Grimaud:

Natürlich. Man muss streng am Notentext entlangarbeiten. Dann lösen sich viele Fragen von selbst. Es passiert leicht, dass man vor lauter Ausdruckswillen den Text deformiert. Da muss man sehr wachsam sein. Wenn man die Details in der Partitur, die Phrasierungen und dynamischen Anweisungen nicht achtet, liegt man leicht daneben.

Manche Interpreten gehen aber auch ganz anders heran.

Grimaud:

Und sie bleiben dem Geist des Werks trotzdem treu! Glenn Gould zum Beispiel hat Brahms nur zwischen piano und mezzoforte gespielt und den Notentext sehr frei behandelt. Trotzdem hat er einen Zugang gefunden, dass ich glaube, er spricht von der Wahrheit. Aber das ist Glenn Gould.

Das Wesentliche steht ja ohnehin nicht in den Noten.

Grimaud:

Das stimmt, aber um das Wesentliche muss man sich keine Sorgen machen. Das ist immer da. Bei jedem Interpreten auf andere Weise. Sie sind alle so starke Persönlichkeiten, dass man das immer heraushören wird. Jeder eignet sich das Werk auf seine Weise an.

Haben Sie schon einmal auf einem historischen Hammerflügel gespielt?

Grimaud:

Ich habe oft Hammerklaviere ausprobiert und andere historische Flügel, etwa für Liszt. Aber so kann man das heute nicht mehr aufführen – was auch an unserer Epoche liegt. Bei uns spielt heute Lautstärke eine große Rolle, das ist schrecklich! In diesen riesigen Sälen für 2000, 2200, 2400 Hörer muss man Musik so spielen, wie sie nie gemeint war. Je lauter, desto besser. Deshalb wissen die Leute oft nicht, wie man transparent spielt, wie man etwas flüstert oder spricht. Es wird alles bombastisch. Und man muss leider sagen, dass auch die digitalen Aufnahmen daran schuld sind.

Sie sind auch Teil dieser Industrie. CDs und Konzert müssen sich verkaufen, dafür braucht es Marketing. Was machen Sie eigentlich, wenn Ihnen eine Modezeitschrift ein Fotoshooting vorschlägt?

Grimaud:

Das habe ich zweimal gemacht. Man hatte mir dazu geraten.

Und wie war’s?

Grimaud:

Ich war erst entnervt und am Schluss amüsiert. Das ist doch schon mal ein Fortschritt! Die Stylistin war ganz verzweifelt. Das Team hatte lauter Vorführmodelle mitgebracht, die sind für Topmodels. Mir passte nichts! Sie mussten alles auftrennen und mit Sicherheitsnadeln feststecken, es war wahnsinnig komisch.

Wenn Leute sagen, eine Künstlerin hat ihre Karriere nur wegen ihrer Schönheit gemacht, was halten Sie davon?

Grimaud:

Das ist ein sexistisches Argument! Bei einer Frau wird das Aussehen immer kommentiert. Und wenn sie schön ist – ich bin übrigens kein bisschen schöner als irgendjemand –, dann muss sie unausgesetzt beweisen, dass sie trotz ihrer Schönheit eine ernst zu nehmende Künstlerin ist. Bei einem Mann guckt kein Mensch drauf, wie er aussieht.