Hamburg. Ein Warm-up brauchen sie nicht. Von der ersten Minute an sind Martin Tingvall, Omar Rodriguez Calvo und Jürgen Spiegel da. Hoch konzentriert und mit hohem Tempo spielen sie den ersten Song – wie drei Hundertmeterläufer, die direkt aus der Umkleidekabine zu den Blöcken eilen und beim Startschuss explodieren. Funktionieren kann so eine kontrollierte Eruption nur, wenn die Beteiligten allerhöchste musikalische Fertigkeiten besitzen und sich aus dem Effeff kennen. Genau das macht die Qualität des Tingvall Trios aus. Seit Mitte der Nullerjahre musizieren sie zusammen, 2006 erschien ihr erstes Album „Skagerrak“, seitdem hat sich die Gruppe zu einem der überragenden Ensembles des modernen Jazz entwickelt. Und zu einem Aushängeschild der Hamburger Jazzszene, denn alle geben die Hansestadt als ihren Wirkungsort an.
Wenn sie in der Fabrik auftreten wie am vergangenen Freitag, ist das für den schwedischen Pianisten, den kubanischen Bassisten und den deutschen Schlagzeuger ein Heimspiel. Mehr als 1000 Zuhörer sind trotz schlechten Wetters in den kathedralenähnlichen Konzertort gekommen, um sich von dem modernen Jazz dieser drei Musiker mitreißen zu lassen. Nachdem auch schon das Gregory-Porter-Konzert vor ein paar Tagen ausverkauft war, scheint die Besucherzahl ein weiterer Beweis dafür zu sein, dass Jazz in Hamburg doch auf einen fruchtbaren Boden fällt. Erfreulicherweise sind auch viele junge Leute in die Fabrik gekommen, was nicht nur an dem guten Ruf des Trios, sondern auch an den Eintrittspreisen gelegen haben dürfte, denn die sind mit 23 Euro sehr moderat.
Nach der furiosen Eröffnungsnummer nimmt Tingvall mit der nächsten Komposition das hohe Anfangstempo etwas raus. Es folgt „Nimis“ vom Debütalbum. Der schwedische Pianist zeigt darin seine melancholische Seite, er lässt die Töne perlen und nimmt die Zuhörer mit auf eine Reise in die Abgeschiedenheit seiner nordischen Heimat, wo er seine Stücke komponiert. Martin Tingvalls Stücke sind ähnlich melodiös wie die musikalischen Werke anderer skandinavischer Pianisten, etwa des verstorbenen Esbjörn Svensson oder von Jacob Karlzon. Das erleichtert den Zugang zu diesen Nummern, denn an die eingängigen Themen schließen sich in der Regel hochkomplexe Improvisationen an.
Mit Omar Calvo und Jürgen Spiegel hat Tingvall zwei kongeniale Begleiter in seiner Band, die weit mehr sind als nur Taktgeber. Immer wieder benutzt Calvo den Bogen, streicht die Saiten seines Kontrabasses und schafft so schöne lyrische Momente. Wenn der Deutsche das Tempo anzieht, geht der Kubaner mühelos jede Steigerung mit und verblüfft mit wuchtigen Läufen auf seinem mannshohen Instrument. Schlagzeuger Jürgen Spiegel ist derjenige, der Härte in den Klang des Trios bringt. Er kann Felle und Becken mit der Vehemenz eines Rockschlagzeugers traktieren, doch über einen weichen Anschlag aus dem Handgelenk verfügt er gleichfalls – unabdingbar bei den vielen ruhigen Passagen in Tingvalls Musik.
Das Trio spielt Stücke aus allen Alben und auch ein paar neue Nummern. „Die sind so neu, die haben noch keinen Namen“, sagt Tingvall und lacht. Seine Ansagen sind witzig und pointiert, er ist das Gegenteil eines verkopften Jazzers, nämlich ein Musiker, der sein Publikum mitnehmen kann, ohne anbiedernd zu sein. Mit dem argentinischen Perkussionisten Marcio Doctor und der Tänzerin Elva De Guardia kommen für zwei Lieder auch noch Gäste auf die Bühne und erweitern die Bandbreite um ein weiteres südamerikanisches Element.
Das Publikum in der Fabrik feiert die drei Virtuosen für ihre zu Herzen gehende Musik. Die ganze Gefühlspalette von tieftraurig bis himmelhoch jauchzend findet sich in den Songs des Schweden, man kann dazu seinen Gedanken nachhängen, und manchmal fängt man unweigerlich an zu tanzen, weil der Rhythmus sich plötzlich in einen mitreißenden Groove verwandelt. Glücklich strömen die Zuhörer nach dem zweistündigen Konzert in die kühle Nacht. Jazz kann Wärme erzeugen, dem Tingvall Trio sei Dank.
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