Klapperschlangenmäßig, genial, gnadenlos: So erinnert sich der Kaufmännische Geschäftsführer des Thalia Theaters, Ludwig von Otting, an den verstorbenen Musiker Lou Reed.

Hamburg. Wir hatten mit Bob Wilson und Tom Waits sehr erfolgreich „Black Rider“ und „Alice“ gemacht und wollten in dieser Kombination ein drittes Stück angehen, als Tom nach „Alice“ plötzlich in den kanadischen Wäldern verschwand. Lebenskrise, Schaffenskrise, Ehekrise, keine Ahnung, er war jedenfalls für niemanden mehr erreichbar. Ich war als Betriebsdirektor aber dafür zuständig, dass die Produktionen weiter liefen und habe Bob Wilson also nach Rücksprache mit Jürgen Flimm, der damals Intendant war, drei Alternativvorschläge gemacht: Lyle Lovett, den ich damals aus irgendeinem Grund toll fand, Laurie Anderson – und eben Lou.

Wilson war wegen des Abtauchens von Tom Waits wahnsinnig schlecht gelaunt, ließ seinen Bleistift ewig über den drei Namen kreisen und tippte irgendwann auf den letzten: „Ask Lou.“ Ich flog also nach New York und fand das super: Lou Reed war eine Art Gott für mich, Velvet Underground, die Bürgerschreckattitüde, das alles fand ich fantastisch. Und ich finde es heute noch sehr berechtigt, dass ich das fand.

Als ich ihn dann traf, war es allerdings erst einmal ernüchternd. Er ließ mich Stunden warten und benahm sich dann dermaßen unangenehm, dass ich relativ schnell an dem Punkt war zu denken: Noch ein Satz, den du absichtlich so wegnuschelst, dass ich kein Wort verstehe, und ich bin weg. Das lass ich mir nicht bieten. Während ich also gerade überlegte, wie ich meinen Abgang am besten in Szene setzen könnte, machte ich irgendeine flapsige Bemerkung zum Stück und er brach urplötzlich in ein wahnsinniges Gelächter aus, war auf einen Schlag nett zu mir – und sagte zu.

Er hatte noch nie etwas am Theater gemacht bis dahin und schickte erst einmal seinen Gitarristen Mike Rathke für die Vorarbeiten nach Hamburg. Meine Freunde von der Black-Rider-Band fand er alle doof. Da spielte zum Beispiel der Hamburger Musiker Frank Wulff vor, der zur Hamburger Band Ougenweide gehörte, und Rathke sagte: „Lou stürzt sich aus dem Fenster, wenn er das hört!“ Irgendwann merkten die, dass Frank einfach alles konnte, womit die gar nicht gerechnet hatten – und sie haben ihn doch genommen, genauso wie Wolfgang von Henko an der zweiten Gitarre, Frank Fischer am Bass und Stefan Rager am Schlagzeug. Lou war nach kurzer Zeit begeistert von seiner Band. Er war überhaupt irrsinnig professionell, wahnsinnig genau und gnadenlos präzise. Keiner der Musiker hatte irgendeine Freiheit, er hatte alles unter Kontrolle. Wenn die Sänger Vibrato sangen, war das für ihn das Allerschlimmste.

Lou Reed war ein anerkanntes, aber gefürchtetes Mitglied der Produktion, er konnte geradezu klapperschlangenmäßig über jemanden herfallen. Zum Beispiel hatte er Edgar Allan Poes Gedicht „The Raven“ für das zweite Stück „POETry“ autobiografisch bearbeitet. Alle fanden es furchtbar, aber keiner, nicht mal Bob Wilson, traute sich, ihm das zu sagen. Bis einer der Schauspieler zu ihm ging und etwas naiv sagte: „Du, ich finde die Version von Poe eigentlich besser.“ Lou hätte ihn fast gelyncht, wir mussten ihn von der Bühne ziehen.

Im Grunde war er ein zu klein geratener Bürger aus Long Island, der ständig mit Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen hatte. Einmal kriegte ich morgens einen Anruf von ihm, er war in New York und da war es vier Uhr früh. Ich hatte einen brüllenden, keifenden Lou Reed am Apparat, der mitbekommen hatte, wie ich ein paar Tage zuvor eher flapsig gesagt hatte, wir machen ja „Time Rocker“ und nicht „Time Walker“ und damit eigentlich nur einer Regieanweisung von ihm zustimmte, und er brüllte nun also, wie ich es wagen konnte, seine Produktion als „Time Walker“ zu bezeichnen. Ich stellte auf Psychologen-Modus und sprach ganz ruhig: „Lou, you are the greatest musician I’ve ever worked with“ und weiter in dieser Art, und er beruhigte sich und unterbrach mich irgendwann: „Ludwig, do you love me?“ – „Yeah, I do“, sagte ich. Und er: „Okay“ – und legte auf. Morgens um vier. Das brauchte er ab und zu.

Wir hatten einen Hospitanten, der sich nur um ihn kümmerte. Er aß zum Beispiel nur vegetarisch, wir mussten ihm immer makrobiotisches Essen bestellen und er hatte einen Gesundheitsberater, mit dem er dauernd telefonierte. Gesoffen hat er nicht. Keinerlei Exzesse. Null. Er war einfach immer sehr auf die Arbeit fokussiert.

Eigentlich habe ich noch eine Einladung bei ihm offen. Wenn ich das nächste Mal in New York sein würde, wollte er mich zum Essen einladen. Tja.

Protokoll: Maike Schiller

Ludwig von Otting war von 1985 bis 1991 Künstlerischer Betriebsdirektor und ist seit 1992 Kaufmännischer Geschäftsführer am Thalia Theater