Das Überjazz-Festival auf Kampnagel glänzte nicht mit großen Namen. Zu entdecken gab es in den drei Tagen aber genug. Die Vielfalt der Rhythmen riss die Besucher mit.

Hamburg. Jeder wippt. Niemand kann sich dem Rhythmus der acht Musiker entziehen. Fünf Bläser schmettern schnelle Riffs und kurze Melodiebögen, zwei Schlagzeuger trommeln im Stehen auf Pauken und Becken, die Bassbegleitung dröhnt aus dem mächtigen Schalltrichter eines Sousafons. Edward Lee jr. muss die Backen mächtig aufblasen, um den dumpfen stampfenden Rhythmus hinzubekommen, zu dem seine Mitstreiter und das Publikum auf Kampnagel tanzen.

The Soul Rebels heißt das Oktett, es kommt direkt aus New Orleans, jenem Ort, an dem Ende des 19. Jahrhunderts der Jazz entstanden ist. Bis heute steht die Stadt an der Mündung des Mississippi für überbordende Lebensfreude und für die Verbindung von Amüsement und Jazz. Marching Bands gehören dort immer noch zum Alltag, die ursprüngliche militärische Tradition haben die acht schwarzen Musiker weit hinter sich gelassen. Hip-Hop, die modernste Variante originärer afroamerikanischer Musik, verschmelzen die Musiker mit Oldtime Jazz zu einer mitreißenden Partymusik.

Die Truppe aus der Stadt des Mardi Gras steht beim diesjährigen Überjazz-Festival, das gestern Abend mit dem Auftritt des Soulsängers José James zu Ende gegangen ist, für die Tradition des Jazz, aber auch für den großen Spaß, der dem Genre immanent ist.

The Soul Rebels praktizieren ihre Gute-Laune-Musik direkt, ein Schweizer Ensemble mit dem lustigen Namen Hildegard Lernt Fliegen schlägt da ein paar mehr Kapriolen. Die Musiker aus der Alpenrepublik sind ausgesprochene Spaßmacher, die ihre Komik in virtuos gespielten Jazz verpacken, dem Publikum dabei aber auch kakofonische Geräusche um die Ohren schlagen. Mit Andreas Schaerer hat die Band einen Vokalartisten, wie es ihn wohl kein zweites Mal auf der Welt gibt. Wenn Schaerer gestenreich einen Text liest, den ein Kollege unmittelbar zuvor stakkatohaft und ohne hinzusehen in eine Reiseschreibmaschine getippt hat, ist das allerbestes Komödiantentum auf höchsten Niveau. Hildegard Lernt Fliegen ist in diesem Jahr die Entdeckung des Festivals.

Zu entdecken gibt es wieder genug in den drei Tagen. Die ganz großen Namen stehen nicht auf dem Programmzettel. Der berühmteste ist der Gitarrist Bill Frisell, der begleitet von der NDR Bigband auf seiner mintfarbenen Gitarre eine Vielzahl lyrischer Improvisationen hervorzaubert. Doch Frisell ist nicht sehr häufig in Hamburg gewesen, sodass viele Zuhörer auch ihn erst entdecken müssen.

Das Gleiche gilt für Vijay Iyer und sein Trio. Die Gruppe zählt zur Champions League des modernen Jazz. Der in New York lebende Pianist ist vom Fachblatt „downbeat“ im vergangenen Jahr in fünf Kategorien ausgezeichnet worden, in der großen k6-Halle erlebt das aufmerksame Publikum, warum Iyer in der Kritikergunst so weit oben rangiert: Sein Anschlag ist federleicht, seine Improvisationen überraschend, ohne in die Extreme zu gehen. Auch Iyer verfügt über eine lyrische Art des Spiels und entführt den Zuhörer wie auf einem fliegenden Teppich in luftige Höhen.

Die Lust am Klangexperiment zeichnet das Brandt Brauer Frick Ensemble aus. Schon einige Male ist die in Berlin gegründete Gruppe in Hamburg gewesen, jedoch nie mit dem zehnköpfigen Ensemble. Auf ihren Platten nehmen Brandt Brauer Frick Musik mit klassischen Instrumenten auf und samplen sie dann. Bei den Konzerten werden diese gesampleten Kompositionen wieder live aufgeführt. Klingt kompliziert, funktioniert aber, weil die zehn Musiker exquisite Instrumentalisten sind. Ihre Rhythmik ist manchmal nervös, ihre Sounds oft kühl. Es sind wohlüberlegte Kopfgeburten, aber auch diese passen in dieses Festival, das nicht umsonst die Präposition „über“ in den Festivaltitel aufgenommen hat.

Ein Festival wie Überjazz geht in seinem Programm nicht auf Nummer sicher

Das „über“ bedeutet ein „mehr“ im Sinne inhaltlicher Erweiterungen. Die zum Techno zählenden Klangexperimente von Brandt Brauer Frick haben beim Überjazz die gleiche Berechtigung wie das String Trio des finnischen Pianisten Iiro Rantala mit seinem Brückenschlag in die europäische Moderne oder die Kooperation zwischen dem norwegischen Jazz-Trompeter Nils Petter Molvaer und dem Elektro-Künstlern Moritz und Laurens von Oswald. Letzteres funktioniert auf der Bühne jedoch nicht so wie auf dem Album „1/1“. Die Oswalds sitzen hinter Schreibtischen und schicken von ihren Laptops Klänge und Rhythmen in die Lautsprecher, Molvaer sitzt vor ihnen und improvisiert auf der Trompete. Doch das Zusammenspiel wirkt belanglos und langweilt mit zunehmender Dauer, etliche Zuhörer verlassen den Saal vor Ende des Auftritts.

Vor solchen – natürlich subjektiven – Enttäuschungen ist man bei einem Festival mit insgesamt 28 Konzerten nicht gefeit. Aber Scheitern gehört ebenfalls dazu, denn ein Festival wie Überjazz geht in seinem Programm nicht auf Nummer sicher. Und genau das macht eben seine große Qualität aus. Wippen geht eben nicht immer.