Der Eiserne Vorhang raste nach oben, die Gegengewichte fielen auf die Bühne. Neu-Intendantin Karin Beier muss die Eröffnung verlegen

Hamburg. Glücklicherweise waren keine Menschen auf der Bühne des Deutschen Schauspielhauses. Am Dienstagnachmittag ist auf der Baustelle des Theaters, wo derzeit ein neuer Bühnenturm errichtet wird, der Eiserne Vorhang, der den Bühnen- und Zuschauerraum voneinander trennt, aus bislang ungeklärter Ursache nach oben geschnellt. Parallel dazu sind die Gegengewichte, die die Fahrt dieses Vorhangs mitsteuern, auf den Bühnenboden aufgeprallt und haben ihn teilweise durchschlagen. Aus diesem Grund wurde die Baustelle umgehend gesperrt und gesichert. Durch den Unfall wird die für den 15. November geplante Wiedereröffnung des Großen Hauses nicht zu halten sein.

Intendantin Karin Beier, die zurzeit auf der Probebühne in der Gaußstraße „Die Rasenden“ probt, einen siebenstündigen Abend, der sich aus vier antiken griechischen Stücken zusammensetzt, will mit dieser Inszenierung, an der ein Großteil des Ensembles sowie das Ensemble Resonanz beteiligt ist, ihre erste Spielzeit am größten deutschen Sprechtheater eröffnen. Die Premiere war bereits einmal wegen der aufwendigen Umbauarbeiten an der Untermaschinerie von Anfang Oktober auf den 15. November verschoben worden. Kommende Woche hätten Regisseurin und Schauspieler erstmals auf der Bühne proben können – eine ohnehin ungeheuer knappe Bühnenzeit für eine derart große Premiere. Nun geht gar nichts mehr. Diese Premiere und auch die folgenden wie die für den 20. November geplante „Der Idiot“ (Regie: Karin Henkel) und Karin Beiers für den 23. 11. geplante Inszenierung „Der Gott des Gemetzels“ müssen auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Technisch, organisatorisch und künstlerisch ist dies ein GAU für das Schauspielhaus.

Schließlich sind die Vorstellungen an einem Theater auf Monate sorgsam durchgeplant. Wer spielt wann? Welche Vorstellungen sind wann im Verkauf? Welche Gäste, Musiker kann man wann einsetzen? Renommierte Ensemblemitglieder wie beispielsweise Joachim Meyerhoff oder Birgit Minichmayr, die in den „Rasenden“ dabei sind (Minichmayr spielt Elektra), spielen auch Vorstellungen an anderen Theatern wie dem Wiener Burgtheater, der Berliner Volksbühne oder dem Münchner Residenztheater. Spielpläne müssen koordiniert werden. Und natürlich stellt sich auch die Frage, wer kann wann mit den Proben beginnen? Was muss abends ab- und morgens aufgebaut werden? Das Theater, mit seinen 350 Mitarbeitern, kann nur reibungslos laufen, wenn alle Rädchen ineinandergreifen. Ein Bühnenunfall derartigen Ausmaßes legt alles lahm. Letztlich auch einen Teil der künstlerischen Kraft. Für Karin Beier, deren Saisonstart nicht nur in Hamburg mit Spannung erwartet wird, sondern zu deren Premieren sich auch viele Theaterleute aus dem deutschsprachigen Raum angesagt haben, ist dieser Unfall eine zusätzliche Starterschwernis. Momentan sind Sachverständige im Theater, um zu klären, wie es zu dem Unfall kommen konnte und welche Maßnahmen nun ergriffen werden müssen. Mit einer „schnellen Reparatur“ ist wohl eher nicht zu rechnen, wie Schauspielhaus-Sprecher Thomas Müller erklärt.

Der Eiserne Vorhang ist als Brandschutzeinrichtung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts an jedem Theater Pflicht. Das tonnenschwere Gebilde dient der Abschottung von Bühnen- und Zuschauerraum, hauptsächlich im Falle eines Brandes. Jeder Zuschauer, der nach der Vorstellung schon einmal länger im Theater geblieben ist, kennt das Klingeln, das einsetzt, sobald der Eiserne Vorhang heruntergelassen wird. Es dient der Unfallverhütung beim Herablassen. 1966 erdrückte am Schauspielhaus der Eiserne Vorhang eine junge Zuschauerin. Sie starb. Nie zuvor und nie danach ist so etwas passiert.

Die Premieren, die nicht auf der großen Bühne des Theaters stattfinden, können wie vorgesehen am Schauspielhaus herauskommen. „Nach Europa“ nach Marie N’Dayes Roman „Drei starke Frauen“ mit Bettina Stucky als Protagonistin wird am 17. November im Malersaal uraufgeführt. Katie Mitchells Premiere von Martin Crimps Stück „Alles Weitere kennen Sie aus dem Kino“ hat am 24. November im Atelier A 9/10 auf dem Studio-Hamburg-Gelände Premiere. Dorthin war die Produktion ausgelagert worden, da die technischen Arbeiten am Bühnenturm keine Proben auf der Bühne zugelassen hätten.

Kultursenatorin Barbara Kisseler und Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier haben sich umgehend ein Bild von den Schäden gemacht. Barbara Kisseler erklärt: „Wir werden nun zusammen mit dem Schauspielhaus versuchen, die Folgen dieses Unfalls so gering wie möglich zu halten. Zunächst bin ich ausgesprochen froh, dass bei dem Unfall niemand verletzt wurde.“ Und Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier ergänzt: „Es geht nun darum, auf diese neue Situation so flexibel wie möglich zu reagieren – wie es für das Hamburger Schauspielhaus technisch und künstlerisch am besten ist.“ Als Regisseurin muss Karin Beier natürlich trotz des technischen Unfalls streng durchgetaktet weiter probieren.