Eine Begegnung mit dem Gründer und Verleger des Abendblatts – mit Blick auf den Todesstreifen mitten in Berlin. Nichts konnte Springer so erregen, wie ein scheinbarer Verstoß gegen eine seiner Grundhaltungen.

Der Hamburger Verleger Axel Springer hat lange im Ruf seiner Gegner gestanden, von der Chefetage aus die Zeitungen und Zeitschriften des Konzerns mit eiserner Hand zu lenken, den Blattmachern quasi die Linie vorzuschreiben und seine Chefredakteure an kurzer Leine zu halten. Ihn in dieser Totalität darzustellen war im Kreise seiner Neider und der westdeutschen Linken beliebt und verlogen zugleich, fern der Wirklichkeit. Und doch gab es eine einzige Ausnahme. Nichts konnte den in Hamburg und später in Berlin dominierenden Zeitungsverleger so erregen, wie ein scheinbarer Verstoß gegen eine seiner Grundhaltungen gegenüber dem kommunistischen Machtbereich, der an sein Berliner Konzernhochhaus grenzte.

Eines Tages im Spätsommer 1983 ruft sein Berliner Büro das Sekretariat vom Hamburger Abendblatt an: Herr Springer möchte mich sprechen, morgen, so gegen Mittag.

Wir treffen uns in der Chefetage im 18. Stock, schon ahnend, worum es gehen würde. Vor zwei Tagen stand im Hamburger Abendblatt ein Artikel, in dem es hieß: Die DDR werde… also DDR ohne die Gänsefüßchen, ohne die Tüttelchen, wie man in Hamburg sagt. Das sei wohl vergessen und beim Korrekturlesen übersehen worden, sage ich dem Verleger. Eloquent erwiderte der Konzernchef, „wir müssen unabänderlich die Haltung wahren und den Herren da drüben nicht konzedieren, sie seien rechtmäßig vom Volk gewählt worden“. Er beruft sich auf den Satz seines ehemaligen Herausgebers der „Welt“, Herbert Kremp, der einmal schrieb: „Die DDR ist weder deutsch noch demokratisch, noch eine Republik.“ Worauf ich ihm antwortete, deutsch sei sie schon, denn wir würden ja immer noch von unseren „Landsleuten da drüben“ sprechen, und schließlich seien wir auch Deutsche gewesen, als Hitler herrschte und uns ins Elend führte. Axel Springer weiß, dass ich in Berlin geboren und dort aufgewachsen bin. Er: „Sie als Berliner und jetziger Hamburger kennen doch die Materie, die uns bewegt, wir wollen doch alle, dass diese Stadt und dieses Land wieder eins wird.“ Ich: „Das ist doch unser aller Wunsch!“

Wir stehen an der Fensterflucht seines Büros in der 18. Etage und schauen hinunter auf die Mauer und den feinsäuberlich geharkten Sandstreifen davor, der die Welt in Ost und West teilt. Die abgerichteten Schäferhunde mit feinen Spürnasen an langen Führungsleinen lauern auf jede Bewegung und wenn es nur Kaninchen sind. Auf den Wachtürmen stehen mit Maschinenpistolen gerüstete Volksarmisten. Kein Mensch aus dem Osten würde hier, an dieser Stelle der Stadt, eine Chance haben zu fliehen.

Wer war dieser Axel Springer, der im September 1985 zwei Jahre nach unserem Treffen in Berlin gestorben ist und den seine Gegner ob seiner verlegerischen Erfolge als „Pressezaren“ angefeindet haben? Es ist nun mal so in jeder Gesellschaft, dass Erfolgsmenschen Bewunderer finden, aber auch Neider und radikale Gegner, die sich einst unter dem Sammelbegriff „Kampf gegen die Springer-Presse“ zusammenfanden. Dabei war dieser Mann einfach „nur“ erfinderisch nach der grauenvollen Hitler-Zeit und den furchtbaren Zerstörungen des Landes und dem Leid der Bürger in ihrer geschundenen Stadt. Er hatte ein Gefühl für die Menschen, die mit der Sehnsucht nach einer besseren Welt aus den Luftschutzkellern gekommen waren – er, der Sohn des Hamburger Druckereibesitzers und Verlegers der „Altonaer Nachrichten“ Hinrich Springer.

Nach der Kapitulation notierte er sich auf einem Zettel Papier seinen ersten verlegerischen Grundsatz, der hieß: „Die Wiederherstellung der Menschlichkeit“. Er tauchte in die hansestädtische Gefühlswelt ein, um die Alltäglichkeit seiner Hamburger zwischen Trümmerbergen und den wenigen erhalten gebliebenen Häuserzeilen zu ergründen. Er ging durch die Straßen, stellte sich in die Schlange vor einem Gemüseladen oder an einer Straßenbahnhaltestelle und hörte zu, worüber die Menschen sprechen, was sie bewegt. Wie fange ich diese Menschen ein, eine Zeitung zu kaufen, in der sie sich selbst wiederfinden? Das war seine Grundidee, dieser Neubeginn des Menschlichen, der Grundsatzartikel eins seiner neuen Zeitung Hamburger Abendblatt.

Am 14. Oktober 1948, einem Donnerstag, erschien das Hamburger Abendblatt zum ersten Mal. Seine Redakteure schrieben ihre Artikel auf geliehenen Schreibmaschinen. Weil die Papiernot noch groß war, konnte Hamburgs neue Lokalzeitung zunächst nur dreimal in der Woche erscheinen. Die Startauflage mit 60.000 Exemplaren, genehmigt vom Hamburger Senat unter Bürgermeister Max Brauer, mit einer Auflage von 60.000 Stück, war binnen weniger Stunden verkauft. Die Zeitung mit dem Zitat des Hamburger Dichters Gorch Fock (sein bürgerlicher Name: Johann Kinau) „Mit der Heimat im Herzen die Welt umfassen“ im Titelkopf trat einen Siegeszug an. Nach einem halben Jahr griffen schon 170.000 Hamburger täglich zu diesem Blatt und eines fernen Tages würden es 320.000 sein. Der „Spiegel“-Gründer Rudolf Augstein wird später einmal sagen, Axel Springer habe die „auflagenempfindlichste Nase“ Deutschlands gehabt.

Seit der Gründung des Abendblattes vor 65 Jahren bis zum heutigen Tag sind rund 20.000 Ausgaben dieser Tageszeitung geschrieben, bebildert und gedruckt worden. Seit jener Erstausgabe wurden mehr als fünf Milliarden Exemplare verkauft. Soweit die nüchterne Statistik. Entscheidender als diese Zahlen sind der Herzschlag dieser Zeitung und das Engagement für diese Stadt und ihre Menschen. Immer hat das „Abendblatt“-Herz nicht links und nicht rechts, sondern in der Mitte geschlagen.

Wir haben den Menschen ihre Stadt, die nahe und die große Welt erklärt. Wir haben die Menschen über Krankheiten aufgeklärt, verletzten Kindern geholfen und zu Spenden aufgerufen, um ihnen eine schnelle Heilung zu ermöglichen. Wir haben für ein Kind, das zu Weihnachten geboren wurde, die Patenschaft übernommen. Wir haben herrenlos gewordene Haustiere vermittelt. Wir haben in großen Aktionen Lehrstellen für Jungen und Mädchen geschaffen, Eltern über die Schulen aufgeklärt. Wir haben den Menschen nicht nur gesagt, wer sie regiert, wir haben ihnen auch mitgeteilt, wo die Grenzen der Befugnisse der Regierenden sind. Wir haben Menschen, die in dieser Stadt etwas bewirkt haben, gelobt und jene gescholten, die unserer Meinung nach falsch oder gar nicht handelten.

Auch wenn wir jemanden kritisierten, haben wir immer darauf geachtet, seine Würde nicht zu verletzen, und immer versucht, Minderheiten zu schützen, indem wir sie zu Wort kommen ließen. Wir haben, als in der Hafenstraße einst die Barrikaden brannten, dem Bürgermeister geraten, es doch noch mit einem Friedensvertrag zu versuchen, den Weg eines Ausgleichs zu finden. Eine Zeitung ist eben nicht nur bedrucktes Papier. Sie ist ein Geschöpf besonderer Art, an dem täglich Hunderte von Menschen wirken. Es atmet, es drückt Gefühle aus, es möchte immer gut gelaunt sein, es kann aber auch mal übellaunig daherkommen. Es ist wie eine Person, um die sich eine vielköpfige Familie schart, die Autorität ausstrahlt und die Kraft, etwas zu erreichen, indem sie die Menschen zum Nachdenken bringt.

Diese Person liebt Theater und Musik, interessiert sich für Politik und Wirtschaft, sie parliert gern über das Wetter, möchte wissen, wer der Mann oder die Frau des Tages ist. Sie erkundet die Stadt am liebsten zu Fuß und sucht Orte auf, von denen viele noch nicht genügend Kenntnisse haben. Sie verbreitet Charme, wenn sie sich über die Lebensgewohnheiten anderer verbreitet. Sie mag es, wenn sich jüngere Menschen um sie versammeln und hebt mahnend den Finger: Verachtet mir die Älteren nicht! Manchmal sieht sie sich gezwungen, auf Sitte und Anstand hinzuweisen. Wenn sie zum Beispiel hört, dass eine populäre Frau, auch aus der Medienwelt, die Geburt ihres Kindes im Fernsehen zeigen lassen will, dann sehen wir an ihrer Schläfe eine Zornesader. Sie ist ein bisschen etepetete. Sie mag keine vulgären Ausdrücke, von Sex spricht sie selten. Alte Menschen nennt sie nicht Greis oder Greisin. Sie ist nie jähzornig, höchstens erbost. Sie brüllt nicht, aber mitunter neigt sie dazu, andere zu belehren. Sie hört aber zu, wenn Menschen Ansichten äußern, die sie nicht teilt. Sie liebt die Natur und tritt für deren Schutz ein, aber in Maßen. Sie ist eine praktizierende Christin, respektiert aber Andersgläubige.

Im Ganzen gesehen können wir dieser Person Hamburger Abendblatt wohl unser Vertrauen schenken – hoffentlich auch in Zukunft.

Als ich 15 Journalisten-Jahre im damaligen West-Berlin hinter mir hatte und nach Hamburg zum „Abendblatt“ gekommen war, erlebte ich bald diese besondere Bindung zwischen den Lesern und ihrem Blatt. Das war eine neue Erfahrung. Woran lag es? Wohl daran, dass diese Zeitung einen journalistisches Grundgesetz gehabt hat: Bürgersinn. Unternehmungen wie „Kinder helfen Kindern“, „Von Mensch zu Mensch“ oder „Menschen helfen Menschen“ hatten diese Zeitung zu einer großstädtischen Institution gemacht. Großzügige Hamburger haben im Laufe der Jahrzehnte weit mehr als zwanzig Millionen Mark und Euro gegeben.

Mitte der 50er-Jahre überlegte die Stadt, wie man die Fußgänger gegen den wachsenden Autoverkehr besser schützen könne. Da gab es erste Tests mit gekennzeichneten Fußgängerüberwegen. In der hanseatischen Amtssprache hießen sie in allerbestem Behördendeutsch „Dickstrichkette“. Redakteure dieser Zeitung fanden, dass diese „Dickstriche“ wie die Streifen der Zebras aussahen. Damit waren die „Zebrastreifen“ geboren – der bundesweite Triumphzug eines neuen Schlagwortes. Und ein paar Jahre später führte das Abendblatt einen journalistischen Feldzug an, dem Volksparkstadion endlich den Einbau einer Flutlichtanlage zu geben. Nach langem Zögern und publizistischem Druck knickte die Stadt endlich ein und genehmigte das Projekt.

Wir haben, wie sollte es anders sein, auch Niederlagen hinnehmen müssen. Als in den 90er-Jahren immer mehr Jugendliche Drogen nahmen und sich den „Stoff“ von Händlern rund ums Hauptbahnhofviertel besorgten, entschlossen wir uns, die Szenen vom Dach eines nahen Hochhauses zu fotografieren und die Bilder der Dealer im Abendblatt zu veröffentlichen. Diese kriminelle Szenerie erregte seinerzeit die ganze Stadt, als ein Mädchen aus Ahrensburg voller Suchtstoffe tot aufgefunden worden war. Polizei und Justiz verboten uns eine derartige journalistische Dokumentation. Im Verhältnis zwischen der Regierung, dem Senat, und uns in der Redaktion kam es daraufhin zu vorübergehend frostigen Beziehungen.

Bei einem unserer Neujahrsempfänge unserer Zeitung zitierte ich in der Begrüßungsrede aus einem gerade erschienenen Buch: „Diese Stadt, also Hamburg, wird von der Sozialdemokratie gemeinsam mit dem Hamburger Abendblatt regiert.“ Schmunzelnd kommentierte ich diese Behauptung mit dem Satz: „Sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister, wäre es so wie in dem Buch behauptet, würden wir Ihnen erhebliche Schwierigkeiten bereiten können. Denn uns wählen täglich mehr als 300.000 Hamburger, rund 5000 mehr als die SPD bei der letzten Bürgerschaftswahl erhalten hat.“

Es war aufregend, erfüllend und lehrreich, für die Menschen dieser Stadt eine bedeutende Zeitung zu machen. Den neuen Besitzern des Hamburger Abendblatt wünsche ich, die Tugenden dieser Zeitung im hanseatischen Sinne zu wahren.

Peter Kruse (75) war von 1989 bis 2001 Chefredakteur des Hamburger Abendblatts