Zwei Schlüsselromane der brasilianischen Literatur sind zur Buchmesse vom Suhrkamp Verlag neu aufgelegt worden. Beiden gemeinsam ist bei aller Verschiedenheit, dass sie Selbstvergewisserungen einer Kultur sind, die geprägt wurde von ethnischer Vielfalt und und gewalttätiger Unterdrückung.

Mário de Andrade (1893–1945), Vertreter des Modernismo, hat schon 1928 mit seinem experimentellen Roman „Macunaíma, der Held ohne jeden Charakter“ versucht, gegen das dominante Portugiesisch ein Brasilianisch zu stellen, in dem der eigenständige Charakter der jungen Kultur erkennbar wird. Es ist ein literarischer Geniestreich Andrades, dass der eigentliche Held seiner Geschichte nicht Macunaíma, der pechschwarze Sohn der Nachtangst aus dem Urwald, ist, sondern die Sprache selbst. Die Erzählung der Abenteuer des Stammvaters Macunaíma, der ebenso durch die indianische Mythologie geistert wie durch das zeitgenössische Rio und São Paulo, ist gekennzeichnet durch exzessive Fabulierlust und Freude an der Klangvielfalt und -farbigkeit des brasilianischen Portugiesisch – und wird damit zur Gründungsurkunde einer selbstbewussten Literatur.

Auch João Ubaldo Ribeiro (Jahrgang 1941) geht es darum, die brasilianische Seele aufzuspüren und zu benennen. Sein Weg ist ein anderer als der von Andrade, doch mindestens so eindrucksvoll. „Brasilien, Brasilien“ ist nicht allein vom Umfang her ein wahrhaft großer Roman, eine Art Nationalepos. Ribeiro erzählt mehr als 300 Jahre brasilianischer Geschichte in Geschichten, von kannibalischen Ureinwohnern, portugiesischen Eroberern und ihren europäischen Rivalen, von Kolonisatoren, afrikanischen Sklaven, von Revolutionären und Unterdrückern, bis zur Militärdiktatur in den 1970er-Jahren. Dabei springt er in der Chronologie, ohne je Erzählfäden und Interesse seiner Leser zu verlieren. Sozusagen die Schale der Caju-Nuss, in der Ribeiro brasilianische Historie stattfinden lässt, ist sein eigener Geburtsort, die Insel Itaparica vor Salvador de Bahia im Nordosten des Landes. Der wortgewaltige Ribeiro, deftig und verschwenderisch wie Rabelais, vollbringt das Kunststück, einen Roman zu schreiben, der zugleich traurig und glücklich macht. Es bleibt die Hoffnung, dass Geschichte für die brasilianische Seele keine unendliche Leidensgeschichte ist.

Beide Romane wurden von Curt Meyer-Clason übersetzt, der seit den 50er-Jahren die lateinamerikanische Literatur in Deutschland bekannt machte. Die Hauptrolle Brasiliens auf der Buchmesse ist auch eine posthume Ehrung seiner Arbeit.

Mario de Andrade „Macunaíma“, Suhrkamp Verlag, 217 Seiten, 17,95 Euro

João Ubaldo Ribeiro „Brasilien Brasilien“, Suhrkamp, 734 Seiten, 16,99 Euro